Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski
– wäre er ein Mensch, hätte er wohl mit den Achseln gezuckt. So viel Aufregung um so etwas Selbstverständliches! Aber ich fand es aufregend. Nicht nur unser mühsames Umherlaufen im Wald und das Entdecken von bisher unbekannten Fähigkeiten meines Hundes, sondern auch jedes Mal das Heimkommen zu unserem spartanischen Blockhaus.
In der Cabin sah es noch immer wild aus. Chris und ich hatten es in einem Anfall von Euphorie geschafft, den Umzug vom Zeltlager ins Haus an einem einzigen Tag zu bewerkstelligen. Mit Schubkarren hatten wir unsere Berge an Essensvorräten, Kleidung, Hundefutter, Geschirr, Öllampen und Büchern knapp 300 Meter durch den Pappelwald, dann quer über die Wildwiese und am Rande des Fichtenwäldchens entlang zum Haus befördert.
„Mit ein paar Regalen hätten wir mehr Platz“, stellte ich fest und setzte mich auf den Boden zu den Hunden. Bisher beschränkte sich unser Mobiliar auf einen Sessel und zwei Campingklappstühle, eine Plastikkiste als Tisch und Isomatten als Bett.
„Ich säge kein einziges Brett mehr“, stöhnte Chris. „Den Campingkocher stellen wir einfach auf das kleine Fertigregal, damit hat sich die Küchenanrichte, und wenn ich die letzte Bootsfahrt vor dem Winter nach Atlin mache, gucke ich mal, ob nicht irgendwer im Dorf ein altes Sofa loswerden will.“
„Klingt gut.“ Ich lehnte meinen Kopf an die Wand, von der ich nicht nur jeden Baumstamm, sondern auch jede verpfuschte Nut kannte, und schloss die Augen. „Du, das mache ich jetzt öfter, mich mit den Hunden im Wald verlaufen und dann von Blizzy zurückführen lassen! Das ist so ein tolles Gefühl, sich einfach völlig seinem Hund anzuvertrauen.“
„Na, ob er das jedes Mal schafft?“
„Oh, bestimmt – ich hatte ihnen das doch in Atlin mehr oder weniger beigebracht, weil ich beim Umdrehen immer ‚let’s go back‘ gesagt habe. Auf demselben Weg zurückführen könnte er mich auf Befehl hin sicher, aber dass er einfach die direkte Route nimmt – wow. Und den Kompass und die ganze Notausrüstung habe ich ja zur Sicherheit immer dabei. Ich glaube, wir müssen uns viel mehr von der Vegetation und Unterholzbeschaffenheit leiten lassen, statt stur auf unserm Kurs bleiben zu wollen.“
Herbstfarben
Chris setzte sich neben mich und lehnte sich an mich. „Aber dann kommen wir nicht da an, wo wir eigentlich hin wollen!“
„Vielleicht muss man dann eben immer mal wieder den Kurs korrigieren oder so. Blizzy hat uns doch eine Strecke gefunden, die ganz gut zu gehen war und trotzdem in die richtige Richtung ging.“
„Nun haben wir ja Zeit für so was.“
„Mhm. Schön, dass du diesen Winter hierbleibst!“ Chris war sonst meist für einige Wintermonate unterwegs auf Reisen, um über den Atliner Tellerrand hinausblicken zu können und neue Länder und Menschen kennenzulernen. Mich störte das nicht weiter, ich war gern allein – aber für zumindest diesen ersten Wildniswinter hatte ich mein Veto gegen sein Reisefieber eingelegt. Wobei ich es mir für die Zukunft spannend vorstellte, dann monatelang ohne jegliche menschliche Gesellschaft und von der Welt abgeschnitten im Wald zu sein.
„Ja, finde ich auch“, sagte Chris.
Aber … setzte ich in Gedanken fort und grinste.
„Aber auf die Dauer – ich muss einfach immer mal wieder raus. Etwas Abwechslung haben und neue Leute treffen.“ Chris sah besorgt aus.
„Ja, das weiß ich.“ Ich streichelte Blizzards samtiges Ohr. „Ist doch okay, von mir aus kannst du in Zukunft ja wieder auf Reisen gehen. Wir sind jetzt schließlich den ganzen Rest des Jahres ständig zusammen, vermutlich würden wir uns mit der Zeit auf den Geist gehen – und ich stelle mir das toll vor, hier ganz allein in der Wildnis zu sein. Nur das Land, die Hunde und ich … “
Allein
Der Winter steht vor der Tür
Allein
Sechs Jahre später. Tagish Lake, 25. Oktober: 1 Grad, Schneefall.
Unruhig kauerte ich im Loft neben dem Funkgerät. Draußen fiel unablässig Schnee in den Gletschersee und wurde hungrig vom graublauen Wasser verschlungen, das ihn mitnahm auf seine lange Reise in die Beringsee. Bleierne Wolken hatten die Berge vollkommen ausgelöscht. Einsam kam es mir vor, wie jeden Spätherbst, wenn Chris für dreieinhalb Monate auf Reisen ging. Obwohl ich mich jedes Mal auf das Alleinsein freute, war die Umstellung von intensiver Zweisamkeit auf intensive Einsamkeit nie ganz einfach – trotz der inzwischen vier Hunde, die mir gute Gesellschaft waren.
Ein letztes Funkgespräch mit Chris
Ich drehte am Lautsprecherknopf. Schon nach drei Uhr; bis zu seinem Abflug nach Südamerika war Chris in Atlin und wollte sich noch einmal melden. Aber bisher herrschte Funkstille. Endlich tönte seine Stimme durch das Loft: „Raven Hill, Raven Hill. Como Lake.“
„Hey, wie geht’s?“, fragte ich. Jegliche Gefühle von Einsamkeit waren plötzlich verflogen.
„Prima.“ Ich hörte das Lächeln in Chris' Stimme. „Und bei dir, alles in Ordnung?“
„Ja. Es hat gerade angefangen, zu schneien. Warst du –“ Meine Worte gingen plötzlich in erbostem Gebell unter. „Du, warte, da ist was, ich muss schnell die Hunde rufen!“
Ich warf das Mikrofon hin und kletterte schnell die steile Treppe in unsere Wohnküche hinunter. Gellend pfeifend lief ich an Koyah und Blizzard, die auf ihren Decken lagen, vorbei zur Tür. Alt und schwerhörig waren die beiden inzwischen geworden, aber draußen kläfften Silas und unser junger Jagdhund Moldy ohne Unterlass.
„Silas! Moldy, komm!“, rief ich und steckte den Kopf gerade rechtzeitig hinaus, um eine Elchkuh mit zwei Kälbern unter lautem Ästeknacken aus dem Wald hervorbrechen zu sehen. Schnee- und Erdklumpen, von Elchhufen aufgeschleudert, prasselten auf die wild hinterherjagenden Hunde herab. Verdammt noch mal, seid ihr taub?
Wütend pfiff ich mit der Hundepfeife. Endlich machte Moldy kehrt und kam eilig zurückgelaufen, beflügelt von seinen im Takt wippenden Schlappohren. Wie ein einziges Tier drehten die Elche ab, den Hügel hoch, ein verwischter Fleck von braun-schwarzem Fell und einer verwirrenden Vielzahl hellsockiger, langer Beine. Hochbeinig rennend, mit steil gereckten Hälsen, erreichten sie die Anhöhe. Die kurzen Mähnenhaare des Muttertieres waren drohend gesträubt. „Si-las! Komm!“, brüllte ich, und nach einem letzten aufgebrachten Blick zu den Eindringlingen bequemte er sich, umzukehren. Die kleine Truppe Elche machte am Wiesenrand halt. Langohrig sah die Kuh zu uns hinab.
Elchkuh mit Zwillingen
Während ich die beiden Elchjäger in die Cabin scheuchte, zog ich mir aufgeregt meine Jacke an. „Los, flott, flott. So ist brav, rein jetzt.“ Blizzard und Koyah, die den Grund für den Lärm verpasst hatten, drängelten sich interessiert an meine Beine. „Nein, ihr bleibt alle drinnen.“
Sollte ich Chris am Funk schnell Bescheid sagen? Ach was. Nur kurz nachsehen, bevor die Tiere verschwanden. Zwillingskälber! Dort oben stand er noch, mein Elchbesuch.
Vorsichtig stapfte ich den Pfad hoch. Die Elchkuh behielt mich genau im Visier, eines der Kälber an ihrer Seite, während sich das andere hinter ihr versteckt hielt. Die Kälber waren jetzt, im Alter von fünf, sechs Monaten, bereits so groß wie ein mittleres Pony. Im Gegensatz zu den bei Begegnungen mit Menschen und Hunden meist recht stoischen Elchkühen waren die Kälber nervös; verständlich, liefen sie doch ein weitaus größeres Risiko, von Bären und Wölfen gerissen