Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski
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Chris träumt vom Leben in der Wildnis
„Na ja – aber du lebst hier immer noch an einer Straße“, sagte er triumphierend. Fast hätte er sich auf meiner Kommode, die als Sitzbank diente, ins Leere zurückgelehnt – doch kein Sturz nach hinten beendete das Thema. Erwartungsvoll sah Chris mich an.
Was gab es eigentlich groß zu diskutieren? In der Schublade unter ihm lagen meine Formulare für eine Weidenpacht, denn zusätzlich zu den Hühnern, die im Herbst vom Bären besucht wurden, wollte ich mir endlich Milchziegen und ein Pferd anschaffen. Außerdem hatte ich vor, eine kleine Jugendherberge aufzumachen und Gemüse für die Selbstversorgung anzubauen. Es steckte so viel harte Arbeit in diesem Grundstück, das ich noch keine zwei Jahre lang besaß. Lauter langgehegte Träume waren gerade dabei, Wirklichkeit zu werden. Das sollte ich einfach alles aufgeben? Und für was – für Chris und noch mehr Bären?
„Klar geht die Schotterstraße das Tal hoch.“ Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihm dieses Hirngespinst am besten ausreden konnte. Wir verbrachten beide gerne Zeit im Busch, gingen wandern und paddeln. Chris wusste natürlich auch, dass ich mich danach erkundigt hatte, einmal einen Winter in einer abgelegenen Blockhütte im Wald zu verbringen. Aber das hieß noch lange nicht, dass ich jetzt mein gesamtes Leben ändern wollte. „Ich habe doch auch keinen Strom, Telefon oder fließend Wasser! Und immer wieder Tiere in der Gegend.“
Chris runzelte die Stirn. „Aber das lässt sich doch gar nicht vergleichen – in der Wildnis wären wir ganz abgeschnitten, keine Straße, keine Nachbarn bis auf Bären, Karibus und Wölfe. Da wären wir völlig auf uns gestellt! Nur wir zwei, ganz allein … “
Ich sah ihn zweifelnd an. Wir waren noch keine zwei Jahre zusammen und Chris war ein extrovertierter, sozialer Mensch; kein Eigenbrötler wie ich. Erst in Atlin hatten wir uns kennengelernt, obwohl wir fast zeitgleich ausgewandert waren: Ich drei Tage, nachdem ich meinen Diplomabschluss als Sozialpädagogin gemacht hatte, und Chris, als er mit Ende Zwanzig eine Kanadierin geheiratet hatte. Uns gefiel die unbevölkerte Weite dieser Gegend, die legere und unkomplizierte Art der Menschen. Träumer und Idealisten, Ureinwohner, Exzentriker und gescheiterte Existenzen – aus ihnen setzt sich die Bevölkerung des Yukon und nördlichen British Columbia zum Großteil zusammen.
Chris und ich waren grundverschieden und hatten auch noch nie zusammen gewohnt. Wie sollte das gutgehen irgendwo im Wald, wo man ständig beisammen war und keinen andern Menschen zum Reden hatte? Dann fiel mir ein schlagendes Argument ein: Wir konnten uns einen Umzug in die Wildnis gar nicht leisten. Ich hatte nicht einmal genügend Geld, um mein eigenhändig gebautes Häuschen innen fertigzustellen, geschweige denn, mir mit Chris ein neues Grundstück zu kaufen.
Nicoles selbstgebautes Haus
„Und wie willst du das alles finanzieren?“, spielte ich meine Trumpfkarte aus. „Sollen wir etwa jedes Mal ein Buschflugzeug chartern, wenn wir irgendwohin wollen, oder uns ein Boot und Schneemobil kaufen? Außerdem müssten wir in der Wildnis ja auch von irgendwas leben. Wie sollen wir da denn Geld verdienen?“ Als Wildfeuerwacht für die Forstbehörde würde er wohl kaum weiter arbeiten können. Und ich wäre gezwungen, mit meiner Arbeit für eine lokale Umweltschutzgruppe aufzuhören, obwohl sie mir wichtig war und Spaß machte. Das kam gar nicht in Frage.
Chris war von meinen Einwänden nicht weiter beeindruckt. Er wedelte mit der Hand, als ließen sich die Argumente leicht verscheuchen. „Ja, ach, das würden wir eben sehen müssen! Irgendwie geht das bestimmt, da bin ich mir hundertprozentig sicher.“
Mein Blick schweifte wieder zum Fenster. Er war doch so gern unter Menschen – noch ein gutes Argument. „Und unsere Freunde? Die würden wir dann nur noch alle Jubeljahre sehen.“
„Stephen würde uns sicher besuchen kommen und Heidi bestimmt auch. Würdest du nicht jemanden in der Wildnis besuchen wollen? An irgendeinem entlegenen Fluss oder See in den Bergen?“
Ja, schon. Ich sah ihn an und seufzte. Grundsätzlich war ich einem Leben im Busch nicht abgeneigt, aber es würde bedeuten, so vieles aufzugeben. Hätte er mir diese Frage nicht ein paar Jahre früher stellen können?
Den ganzen Herbst und Winter hindurch brachte ich in strategischen Momenten immer wieder meine Argumente gegen ein Leben in der Einsamkeit vor. Fast gegen meinen Willen regte sich in mir allerdings zunehmendes Interesse für Chris' Idee, je mehr wir darüber redeten. Etwas in mir verlangte seit Jahren nach einer engeren Beziehung zur Natur, in der ich eine aktiv Beteiligte sein konnte und nicht nur Zuschauerin blieb; nach Wildnis, die man täglich statt nur am Wochenende am eigenen Leib erfuhr. Wo der nächste Nachbar nicht ein Mensch war. Selbst nach acht Jahren in Kanada und hier im entlegenen Atlin fehlte mir etwas an meinen Begegnungen mit Wildtieren – ich hatte keinen wahren Bezug zu ihnen. Ich fand sie zwar beeindruckend und schön, aber ich kannte ihr alltägliches Leben, ihre Umwelt nicht von innen heraus, sondern hauptsächlich aus Büchern, Dokumentarfilmen und Statistiken sowie kurzen, zufälligen Begegnungen.
Wonach ich suchte, war ein ganzheitlicheres Naturverständnis, das sich nicht in den Details der Photosynthese verlor. In den Mythen der Taku River Tlingit, der Ureinwohner dieser wilden Gegend, lagen andere, Jahrtausende alte Weisheiten verborgen: Der Rabe, der die Sonne brachte; der Bär, dessen Seele der des Menschen am ähnlichsten ist; Gletscher, die lebendig waren. Aber konnte man heutzutage überhaupt noch erahnen, was es damit auf sich hatte und wie man als Mensch mit der Umwelt verwoben ist?
Der Atlin Mountain liegt dem Dorf gegenüber
Wie wäre es, überlegte ich mit zunehmender Begeisterung, wenn man sich dem zyklischen Rhythmus der Jahreszeiten überließ? Könnten wir über die Jahre hinweg mit der Wildnis verwachsen, nachdem das Blockhaus gebaut und uns die Umgebung vertraut geworden war, sodass wir nicht mehr nur an der Oberfläche unserer menschenleeren Nachbarschaft kratzten? Denn es war kein Kurzzeitabenteuer, das Chris im Sinn hatte. Sondern die Wildnis als Lebensweg.
Mein Herz raste, als ich meinen Entschluss schließlich in Worte fasste. „Okay. Lass uns nach einem Stück Land suchen.“
Die Suche nach dem Paradies
Hier wollen wir leben
Die Suche nach dem Paradies
Tagish Lake, im Sommer 2004.
Ein Regenschauer tüpfelte die graublaue Wasseroberfläche und löschte die Berge am Südende des Tagish Lake aus, als wären die spitz gezackten Gipfel nur eine Illusion gewesen. Eng schmiegt sich der See, der zu den Quellgewässern des Yukon River gehört, an die Ausläufer des Küstengebirges: Keine sechzig Kilometer hinter den Bergen liegt schon das Salzwasser des Nordpazifiks.
In dunklen Schleiern löste sich der Regen aus den Wolken und wehte auf uns zu. Selbst das Motorengebrumm der Rubber Ducky, unseres antiquierten Schlauchboots, klang jetzt gedämpft. Meine drei Hunde hatten sich philosophisch auf unserer Campingausrüstung zusammengerollt, mit der das kleine Boot randvoll bepackt war – sie fanden die Suche nach einer neuen Heimat nur in den Momenten interessant, wo es an Land ging.
„Können wir nicht näher ans Ufer da hinten ran?“, fragte ich und zerrte die Ärmel meiner Regenjacke über die Hände hinunter. Die Inseln, zwischen denen Chris das Zodiac-Schlauchboot hindurchsteuerte, waren definitiv zu winzig für ein permanentes Zuhause. Ein Robinson-Dasein wäre zwar romantisch, aber wenn man für jeden Spaziergang erst das Boot ins Wasser lassen müsste? Mein Blick tastete die Steilfelsen des Seeufers ab – auch nicht ideal, irgendwo da oben zu bauen. Dann müsste man jedes Mal bergsteigen, wenn man Wasser vom See hochholte. Ich schaute wieder auf die Landkarte, deren Plastikschutzhülle mit Regentropfen gesprenkelt war, und seufzte.