Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski

Ein Blockhaus in der Einsamkeit - Nicole Lischewski


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einer geschützten Bucht wollten wir außerdem einen Platz, der eine schöne Aussicht und auch im Winter genügend Sonnenschein bot, und der in einem leicht zu durchwandernden Mischwald gelegen war, denn Pfade oder Straßen gab es hier nirgendwo. Erstaunlich, wie selten ein Ort, der uns gefiel, diese vier Kriterien erfüllte: Vom Yukon Territory aus waren wir nun fast 80 Kilometer weit den See hinuntergefahren und hatten bisher bloß zwei Plätze gefunden, die wir als potenzielle Grundstücke in Betracht zogen. Wir wussten nicht, ob es uns gelingen würde, ein Stück Land vom Staat zu pachten oder kaufen – die Erfolgsaussichten waren gering. Aber einen Antrag auf öffentliches Land zu stellen war unsere einzige Chance, denn von Privatleuten zu kaufende Wildnisgrundstücke waren unerschwinglich.

      „Wir brauchen eine gute Bucht fürs Boot“, rief Chris über den Motorlärm. „An einem flachen Ufer könnten wir's bei Sturm auch mit der Seilwinde an Land ziehen, aber bei Steilfelsen geht gar nichts.“

      „Laut Karte kommen gleich ein paar Buchten.“ Das Problem war nicht nur das Anlanden mit der uralten Rubber Ducky, deren Schlauchkammern ständig Luft verloren und sich bereits wieder flau anfühlten. Falls wir hier irgendwo Land bekommen konnten, würden wir permanent auf ein Boot angewiesen sein – hoffentlich etwas Seetüchtigeres als das vierzig Jahre alte Zodiac, das Chris und ein paar Freunden gehörte.

      Eine von wilden Himbeersträuchern und Zitterpappelwald gesäumte Bucht öffnete sich zu meiner Rechten. Nach den unnahbaren Steilfelsen machte sie einen heimeligen, freundlichen Eindruck. „Lass uns doch hier mal gucken!“

      „Aber da ist eine Biberburg! Das Wasser könnte man gar nicht trinken.“

      „Ist die denn noch bewohnt?“ Der Bau aus Schlamm und Baumstümpfen war halb zerfallen und keine frisch angenagten, belaubten Äste trieben im Wasser. „Komm, wir schauen einfach mal – und wir müssen sowieso dringend die Rubber Ducky neu aufpumpen.“

      Kaum, dass der Kiel über Sand schrappte, sprangen Blizzard, Koyah und Silas an Land.

      „So, dann mal los.“ Chris vertäute das Boot und zwinkerte mir zu. Hinter den im Unterholz stöbernden Hunden stapften wir den Hang in Richtung Süden hoch, die dutzendste potenzielle Grundstücksbegehung mit den enthusiastisch wedelnden Vierbeinern als Maklerteam. Hagebuttensträucher leuchteten beerenrot, und plötzlich öffnete sich der Wald auf eine Wildblumenwiese. Ein dunkles Band Fichten säumte das Ende der Wiese ein, über der ein herber Geruch von feuchter Erde hing. Durch die Bäume glitzerte das Wasser.

      „Wow, ist das schön hier!“ Hand in Hand schlenderten wir über die Wiese und suchten uns einen Weg den Hang hinunter, bis wir am steinigen Seeufer standen. Es hingen keine Regenschleier mehr über dem Wasser: Vereinzelte Sonnenstrahlen, die durch die Wolken fielen, tasteten sich über die Gletscher, Berggipfel, den See und kleine Inseln. Atlin und die nächste Straße schienen unerreichbar fern, lagen hinter zwei großen Gletscherseen, Bergen und einem reißenden Wildwasserfluss verborgen.

      Blumenwiese mit Indian Paintbrush

      Meine Kehle war wie zugeschnürt vor so viel wilder Schönheit. Im Gegensatz zu den beiden anderen Plätzen, die mir auch nicht schlecht gefallen hatten, wusste ich sofort: Das hier war, wonach wir suchten! Alles fühlte sich richtig an: Die Mischung aus bunten Wildblumen, offenen Wiesen und Wald, und selbst der raue See wirkte durch die gekrümmte Uferlinie und Inseln kleiner und einladender. Ich räusperte mich: „Also, eine bessere Aussicht finden wir nirgendwo! Und Wintersonne hätten wir hier auch, da ist ja Richtung Süden kein einziger großer Berg im Weg. Dazu noch die kleine Bucht … “

      „Ich weiß nicht … “ Chris drehte sich um und musterte den Wald. „Zum Spazierengehen ist der Pappelwald ja eine feine Sache, aber mit dem Holz können wir doch kein Haus bauen!“

      Immer dachte er so gottverdammt praktisch! Holz für den Hausbau könnten wir doch von überall her holen. Ich konnte meine Augen kaum von den scharfen Bergzacken und dem schön geschwungenen Hochtal im Südosten losreißen. „Wenigstens müssten wir nicht erst roden, hier gibt es so viele freie Flächen. Und da hinten wachsen doch lauter Fichten.“

      „Die paar? Das reicht nicht, oder wenn, müssten wir sie alle abholzen und dann wären sie weg.“

      „Vielleicht sind ja weiter oben im Wald noch mehr. Oder wir holen das Bauholz vom andern Ufer.“ Das war dicht mit Nadelwald bewachsen.

      „Ob wir für die andere Seite eine Holzschlaglizenz kriegen würden, weiß ich aber nicht.“

      Da war sie wieder, die Realität, die sich mit der romantischen Vorstellung von unberührter kanadischer Wildnis biss. Nicht nur, dass man für alles vom Plumpsklo bis zum Feuerholz eine Genehmigung braucht: Was auf der Landkarte wie Natur im Urzustand aussieht, da keine Straßen und Orte eingezeichnet sind, ist in Wirklichkeit mit einem komplizierten Netz von industriellen Pachtverträgen, Trapperkonzessionen, Landrechten der Ureinwohner, Naturschutzgebieten und Jagdarealen für Trophäenjäger bedeckt.

      Während große Flächen öffentlichen Landes, die theoretisch dem kanadischen Volk gehören, für Öl- und Erdgasbohrungen, Bergwerke und Kahlschläge freigegeben werden, ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, ein kleines Stückchen Land vom Staat zu kaufen oder auch nur zu pachten, um dort ein bescheidenes Leben zu führen. Sicher ein Grund dafür, dass es heute nur noch wenige Menschen gibt, die ein Blockhüttenleben abseits der Zivilisation führen – die Regierung hat es so gut wie unmöglich gemacht. Selbst Trapper dürfen in den meisten Gegenden nicht ganzjährig auf ihrer Konzession leben.

      „Wir können ja das Zelt hier aufschlagen und ein paar Tage hierbleiben“, unterbrach Chris meine Gedanken. „So toll finde ich den Platz jetzt nicht, aber wir können uns ja mal genauer umgucken.“

      Der Swanson Galcier am Südende des Tagish Lake

      Ich gab ihm einen Kuss und grinste. Dich, mein Freund, werde ich schon noch rumkriegen!

      Und so war es auch.

      „Aber ich hab doch keine Ahnung, wie viel Chilisoße du im Jahr verdrückst!“ Ich warf den Kuli auf den Tisch meines Atliner Häuschens. „Da musst du halt selbst drauf achten.“

      „Was ist der Sinn von zwei separaten Essenslisten? Kochen und essen wir dann jeder für sich?“, empörte sich Chris.

      „Quatsch. Aber du isst immer nur Fleisch, Kartoffeln und Karotten.“

      „Und du nur Spaghetti!“

      „Eben. Also müssen wir doch beide genügend von dem einkaufen, was wir am liebsten essen, damit wir abwechslungsreich kochen können – so, dass es beiden von uns schmeckt!“ Unser Wildnisvorhaben trieb immer seltsamere Blüten: Neben dem Papierkrieg mit der kanadischen Bürokratie auf unseren Landantrag hin waren wir nun damit beschäftigt, nicht nur die Vor- und Nachteile von den Schneemobilmodellen in unserer Preisklasse (derer zwei) abzuwägen, sondern auch, Toilettenpapier, Salz und Käse abzuzählen. Denn häufige Einkäufe würden bald der Vergangenheit angehören. Daher galt es, Antworten auf Fragen zu finden, mit denen man sich im normalen Leben noch nie auseinandergesetzt hat: Wie viel Seife, Mehl und Kaffee verbraucht man eigentlich im Jahr?

      Einkaufen für 9 Monate

      „Mir ist das zu doof, alles abzumessen.“ Chris starrte auf meinen Zettel. „Ich mach das Pi mal Daumen, das klappt schon.“

      „Na gut, also du kaufst Pi mal Daumen ein.“ Ich liebte Listen. Sie vermittelten ein Gefühl von Kontrolle und sahen nach Taten aus, ohne dass man eigentlich viel machte. „Ich hab bei mir jetzt einfach überall zehn Prozent mehr draufgeschlagen, weil wir beim Bauen bestimmt essen wie verrückt.“ Außer einige Monate lang meine Kassenzettel vom Supermarkt zu sammeln, hatte ich drei Wochen lang darüber Buch geführt, was


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