Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
begründete die rasante Entwicklung der Werkstatt, so dass sie 1874 in ein eigenes Gebäude Düstere Eichenweg 9/Ecke Baurat-Gerber-Straße verlegt wurde. 1907 bezog Winkel einen Neubau in der Königsallee 17 – 21, noch heute Standort des Unternehmens. 1911 trat Carl Zeiss als Hauptgesellschafter in die Einzelfirma ein, die von nun an als Winkel GmbH (Mikrowerk Göttingen) auftrat.87 Schon frühzeitig war die Herstellung optischer Präzisionsinstrumente für das Heer ein Geschäftszweig, auf den die Firma sich spezialisierte. Ab 1934 produzierte Winkel Flak- und Winkelzielfernrohre, Peilaufsätze für Marinekompasse, Geschosswaagen und Einzelteile für Richtfernrohre.88 Am 11. November 1937 forderte die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover das RLM auf, die „Winkel R. GmbH“ als „Ausrüstungswerk“ zu kennzeichnen.89 Auch auf dem Gebiet der U-Boot-Optik war der Göttinger Zeiss-Zweigbetrieb führend.90
Die Kriegswichtigkeit der Produktion ließ Anfang 1944 die Diskussion aufkommen, sie zum Schutz vor Bombenangriffen unter dem Decknamen „Ör“ in die Jettenhöhle bei Osterode zu verlegen.91 Am 27. Dezember 1944 wies der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion die Rüstungsinspektion XI in Hannover an, „für Fertigung feinmechanisch-optisches
Rüstungsgerät für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe der Fa. R. Winkel GmbH, Göttingen, Postfach 15 […] die Jettenhöhle bei Papenhöhe im Südharz unweit Osterode mit 2.500 qm zu sperren“.92 Die Planungen wurden bis Kriegsende allerdings nicht weiter verfolgt. Ende 1944 zählte Winkel 651 Mitarbeiter, darunter 117 Ostarbeiterinnen und 50 „freie“ Ausländer.93 Etwa 25 bis 30 der in der Abteilung Feinmechanik angestellten Franzosen hatte der Zulieferer in einer Holzbaracke auf dem Gelände der Strickwarenfabrik Schöneis & Co. in der Groner Landstraße 55 einquartiert.94
Blick auf das Winkel-Werk in der Goethe-Allee (Carl Zeiss Archiv Jena)
In dem Zusammenhang ist ebenfalls die Feinoptikfirma Voigt & Hochgesang, Untere Masch 26, anzuführen. Der erste Lehrling Rudolf Winkels, F. G. Voigt, hatte sie gegründet. Um die Jahreswende 1935/36 wurde im RLM die Aufnahme des feinmechanischen Unternehmens auf die „Firmenliste für Auftragsvergabe“ überprüft. Am 11. Januar 1936 folgte die Anregung, Voigt & Hochgesang „Unteraufträge auf Teilfabrikate zukommen zu lassen“. Zugleich ging an Zeiss die Weisung, die Firma möge Voigt & Hochgesang Aufträge auf Einzelteile für in Bombenabwurf-Geräten benötigte Lotfernrohre (Lotfe) abgeben.95 Auch die Werkstatt für Präzisionsmechanik von Georg Bartels, Untere Masch 26, wurde, wie die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover am 11. November 1937 feststellte, als „Ausrüstungsfirma unter Federführung des Heeres unter Beteiligung von Heer und Luft“ geführt.96
Ferner erhielt die Göttinger Wilhelm Lambrecht GmbH schon frühzeitig Rüstungsaufträge. Die 1859 von Wilhelm Lambrecht gegründete Firma für meteorologische Instrumente, seit 1864 in Göttingen ansässig, war Mitbegründer der Vereinigung Göttinger Werke. Die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover benennt den Göttinger Traditionsbetrieb am 17. November 1936 dem RLM als mögliches Ausrüstungswerk.97 Doch schon seit Oktober 1936 belieferte Lambrecht die Luftwaffe mit Venturi-Düsen, ab Dezember des Jahres die Heinkel-Werke mit Leistungsschreibern.98 Ebenso stellte die Firma unter dem Kennzeichen „crg“ Wetterdienst-Geräte, Bodenmessgeräte für Flak, Gasfrühwarnsysteme, Windschreiber sowie Schiff- und Stations-Barometer her. Für die Flugzeugindustrie war Lambrecht ein wichtiger Zulieferer, der sie mit Bordinstrumenten wie Höhen-, Geschwindigkeits- und Öldruckmessern sowie Variometern versorgte.99 1939 und 1940 standen 80 Mitarbeiter an den Werkbänken, bis 1943 stieg die Zahl auf 95, offenbar den Höchststand in Kriegszeiten.100
Aufmarsch auf dem Lambrecht-Gelände, an der Hauswand das Plakat „Jeder Handgriff, jeder Hammerschlag, ein Gebot für Deutschland“, 1942? (Sammlung Baranowski)
Auffällig sind die zahlreichen Fotos von Szenen, bei denen sich die Firma durch Veranstaltungen oder Banner im Werk zum NS-Staat bekennt. Nach Ende des Krieges zeigten die Alliierten reges Interesse an den Produkten von Lambrecht. Am 23. Juli 1945 reichte das Unternehmen bei der Militärregierung Rechnungen für entnommenes Material im Wert von knapp über 69.000,00 RM ein, das die 21. Wetter-Schwadron der US-Armee unter Leitung von Capt. Singer am 12. Juni 1945 beschlagnahmt hatte; darunter rund 1.000 Hygrometer verschiedener Ausführung.101 Noch jahrelang stritt Lambrecht beim Göttinger Ausgleichsamt und Dienststellen der Alliierten, um den Verlust ersetzt zu bekommen. Letztlich blieben die Bemühungen erfolglos.
Technologietransfer in ‚letzter Minute‘: Die Grona GmbH
Erst 1944, weniger als ein Jahr vor Kriegsende, lagerte der Magdeburger Armaturenhersteller Schäffer & Budenberg (S & B) seine Entwicklungsabteilung als eigene Firma „Grona GmbH“ – eine Textilfabrik verdrängend – nach Göttingen aus. Von der Literatur wenig beachtet, blieb der Betrieb kaum bekannt und geheimnisumwittert, wenn auch so eminent „kriegswichtig“, dass er noch im „Führernotprogramm“ bis Kriegsende arbeitete. Treibende Kraft der Verlagerung war Rudolf Gottfried Berthold,102 seit 1940 Leiter der hochmodernen Forschungsabteilung Messgerätebau beim Magdeburger Marine- und Luftwaffenausrüster für Meß- und Regelgeräte aller Art, der u. a. die Flugzeugindustrie mit Kabinendruckanzeigern, Überdruckventilen und Druckmessern belieferte.103 Berthold, 1892 geborener Göttinger Professorensohn, 1919 in Göttingen mit einer Arbeit über "‘Spektroheliographische Untersuchungen am Wechselstromlichtbogen“ promoviert,104 gehörte als Prokurist mit Direktorentitel zur Unternehmensleitung.105 Zugleich war er als Vorsitzender des Arbeitsringes Feinarmaturen im Sonderring Armaturen mit staatlichen Stellen eng vernetzt.106
Durchhalteparole in den Werkhallen von Lambrecht, 1944 (Sammlung Baranowski)
Die Gebäude der Firma Schöneis in der Groner Landstraße 55, auf dem Gelände steht heute das Leinehotel (Sammlung Karlheinz Otto)
So hatte Berthold bereits im August 1943 Kontakt mit dem Leiter der „Entwicklungskommission Munition“ in Speers Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, Dr. Ing. habil Johann Sommer,107 aufgenommen und die werkseigenen Labore für Forschungen auf dem Gebiet des Hochdrucks angedient. Über Sommer hatte Berthold die Möglichkeit erhalten, seine „Gedanken dem Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Herrn Generaldirektor Dr. Vögler, zu unterbreiten, welche seine vollständige Billigung fanden“.108 Es scheint, als habe Berthold seit dem Zeitpunkt zielstrebig die Ausgliederung der Forschungsabteilung aus dem Firmenverbund und ihre Verselbständigung betrieben. Am 25. November 1943 wies er S & B-Generaldirektor Klein auf die Notwendigkeit hin, „angesichts der zunehmenden Luftgefährdung“ die gesamte Versuchsabteilung – das wissenschaftliche ‚Herzstück‘ des Unternehmens – mit der Versuchswerkstatt 171, dem Laboratorium 162, dem Prüfraum und den rein konstruierenden Abteilungen 154 (Klisch), 157 (Heinz), 158 (Smith), 164 (Diesterweg) und 155/167 (Drewfs) aus Magdeburg „fort zu bringen“; man solle, um die Installationsarbeiten einfacher zu bewältigen, diese Forschungsabteilungen gemeinsam mit einer Betriebsstelle verlagern.109
Zwar hatten die Alliierten ihre Bombardements 1943 auf das ganze Reich ausgedehnt, doch Magdeburg war davon zunächst verschont geblieben. Aus diesem Grund bestand für den Firmenvorstand kein Entscheidungsdruck. Am 6. Dezember 1943 antwortete Klein: „Die Frage der Verlagerung unserer Büros und unserer Werkstätten hat uns natürlich sehr viel beschäftigt. Wir sind aber zu keinem Entschluss gekommen, weil wir auf sehr viele Schwierigkeiten stoßen und zum Schluss immer wieder bezweifeln mussten, ob die Verlagerung tatsächlich den gedachten Erfolg bringen würde“. Um Berthold entgegenzukommen oder ihn ruhig zu stellen, bot Klein ihm leer stehende Büroräume im angemieteten Karstadt-Kaufhaus im 2. Obergeschoß in Burg an, erklärte aber gleich, für Bertholds Werkstatt wären sie nicht geeignet.