Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
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Werkzeug der Metallwerk Silberhütte mit Produktionskennzeichen (Sammlung Baranowski)
Die Einbindung weiterer Industriezweige in die Kriegswirtschaft
Die holzverarbeitende Industrie im Gau Südhannover-Braunschweig war ebenfalls großzügig in die Rüstungsproduktion eingebunden. Das Sägewerk und die Holzwarenfabrik August Müller & Co. (Amco) in Kirchbrak stellten Munitionskisten für die Marine her. Zusätzlich verließen Handgranatenstiele und Stößel für Zünderteile das Werk. Außerdem fertigte die Amco ab 1944 Teile für das Sperrholzflugzeug TA 154.81 Zeitweise waren in dem mittelständischen Unternehmen mehr als 300 Personen tätig.82 Zur Belegschaft zählten 79 Ukrainerinnen, die in einer 1940 errichteten Baracke am Eingang des Ortes Richtung Dielmissen untergebracht waren. Das Grundstück hatte die Gemeinde der Firma Amco kostenlos überlassen. Ansonsten beschäftigte das Sägewerk einige Holländer und Franzosen, die in ‚freien‘ Unterkünften beherbergt wurden. Noch gegen Kriegsende richtete der Rüstungsbetrieb mit Zustimmung des Hildesheimer Regierungspräsidenten ein werkseigenes Lager ein. Am 18. August 1944 hatte er der zuständigen Rüstungsinspektion XI a mitgeteilt, dass gegen den Bau einer Wohnbaracke zur Unterbringung von 40 weiteren Ausländern auf dem Gelände des Sägewerkes keine Bedenken bestünden.83
Die Kistenfabrik Haltenhoff, im Hintergrund das Metallwerk Odertal, 1937 (Foto Lindenberg)
Die 1889 gegründete und 1937 „arisierte“ Holzwarenfabrik Herlag in Lauenförde an der Weser führte nach Angaben ihrer Werkschronik ab 1940 Rüstungsaufträge aus. Sie stellte vorwiegend Munitionskisten sowie Waschhocker für das Militär und Holzstühle für Baracken her. Im Frühsommer 1944 kamen weitere Aufträge hinzu, nämlich Annietmuttern als Ausweichbetrieb für die Göttinger Aluminiumwerke GmbH.84
In Bad Lauterberg war die Kistenfabrik Albert Haltenhoff in die Rüstung eingebunden. Ab 1937 versorgte sie das wenige Meter entfernt arbeitende Metallwerk Odertal überwiegend mit Munitionskisten und Verpackungsmaterial, im Februar 1944 mit einer Belegschaft von 118 Personen.85 Die Uslarer Möbelfabrik Ilse & Co. [ehemals Vereinigte Möbelfabriken Neugarten & Eichmann] produzierte ebenfalls Munitionskisten, führte zugleich aber auch Zulieferaufträge für die Luftwaffe aus.86 Die Werkzeugfabrik Carl Bruns GmbH aus Kreiensen hatte sich gleichermaßen auf die Fabrikation von Munitionspackgefäßen und den Zellenbau für Flugzeuge spezialisiert.87 Die 1935 ins Leben gerufenen Mechanischen Werkstätten C. & M. Brüggemann in Hann.-Münden fertigten als „Sonderbetrieb“ Fallschirme zum Abwurf von Heeresmaterial. Am 15. März 1944 waren in dem Unternehmen über 700 Personen tätig.88 Selbst die Northeimer Baufirma Herbst war Ende des Krieges Zulieferer für die Rüstungsindustrie; sie produzierte in ihren ehemals der Reparatur und Konstruktion dienenden Gebäuden in der Güterbahnhofstraße 10 Metallteile für Splitterbomben, die zur Weiterbearbeitung an die Heeresmuna in Volpriehausen geliefert wurden.89 Der kurze Überblick zeigt, wie vielschichtig und in welch unterschiedlichen Bereichen Betriebe im heutigen Südniedersachsen in die Kriegsproduktion eingebunden waren, ohne zu den Rüstungsschmieden im Großraum Braunschweig-Hannover-Hildesheim-Salzgitter aufschließen zu können.
Kriegsproduktion in der Stadt Göttingen
Die Integration angestammter Unternehmen in die Rüstungsmaschinerie
Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Universitätsstadt noch das Bau- und holzverarbeitende Gewerbe mit 1.830 Beschäftigten die stärkste Wirtschaftsbranche. Weit dahinter lag das Tuchmachergewerbe, bei dem 488 Personen in Lohn und Brot standen; etwa 75 % waren allein in der Tuchfabrik Levin beschäftigt.1 Doch daneben war eine Vielzahl hochspezialisierter Kleinbetriebe der Feinmechanik, Optik und Elektrotechnik mit zunächst nicht mehr als 25 Beschäftigten entstanden. Überwiegend stellten sie für Universitätsinstitute Präzisionsgeräte, wie Analysewaagen (Sartorius), meteorologische Instrumente (Lambrecht), Mikroskope (Winkel) und Apparate für die mineralogische Forschung (Optisch-mechanische Werkstätten von Voigt & Hochgesang sowie Spindler & Hoyer) her. 1912 wurde die Firma Kosmos für Präzisionsinstrumente gegründet, und 1913 die Physikalischen Werkstätten (Phywe), die sich auf Lehrmaterialien spezialisierte. Die Firma Ruhstrat hatte die Elektrotechnik zu ihrer Domäne gemacht; die Herstellung von Widerständen war ihr Schwerpunkt. Binnen weniger Jahre entwickelte sich eine „Universitätsindustrie“, die bald ihre Erzeugnisse auch weltweit vermarkten konnte. Während des Ersten Weltkrieges hatten diese Unternehmen mit ihren Produkten die Armee beliefert; dadurch waren sie zu Industriebetrieben mit mehreren hundert Mitarbeitern herangewachsen.2
Göttinger Betriebe versorgten schon während des Ersten Weltkrieges das Heer und die Marine mit mannigfaltigen Rüstungsgütern. Sie lieferten Vermessungsgeräte, Apparate zur Bestimmung des Standortes von Geschützen, Periskope für Geschütze, Armee-Beobachtungsrohre, Fern- und Prismengläser, elektrische Messgeräte, Notbeleuchtungen sowie Spezial-Widerstände für die Funktechnik. Andere stellten Zünder her oder bearbeiteten Granaten.3 Der Wegfall dieser kriesgbedingten Staatsaufträge führte zu Massenentlassungen und einer andauernden Krise der gesamten Branche, so dass im August 1933 noch immer 1.000 zumeist qualifizierte Arbeitskräfte erwerbslos waren. Verschärfend wirkte sich aus, dass gleichzeitig die Exportmärkte wegbrachen und die zivile Inlandsnachfrage stagnierte.4 Um der Krise zu begegnen, forderte der Magistrat der Stadt erstmals mit Schreiben vom 22. August 1933 vom Reichsarbeitsminister Unterstützung bei der Wirtschaftsförderung. Die Behörden sollten zu Neuanschaffungen angehalten und heimische Betriebe, so insbesondere die der Schwachstromtechnik, mit den großen Konzernbetrieben gleichbehandelt und mit Aufträgen bedacht werden.5 Als Anhang dieser Petition überreichte der Göttinger Magistrat eine ausführliche Übersicht der für eine solche öffentliche Unterstützung in Frage kommenden Industriebetriebe. Dazu gehörten etwa die Feinmechanischen Werkstätten Achilles (Maschmühlenweg 95), die vor allem Ausrüstung für das Eisenbahnsicherungswesen wie Morse-Farbschieber, Fernsprecher, Umschalter sowie Leitungsklemmen produzierte.
Auch die Werkstätten für Präzisions-Mechanik von Georg Bartels in der Unteren Maschstraße 26 (Aerodynamische, geophysikalische und elektrostatische Messinstrumente) und die Metallwarenfabrik Boie (Fabrikweg 2) wurden aufgeführt. Dieser Betrieb hatte bereits im Ersten Weltkrieg Zündladungskapseln sowie Beleuchtungsteile für Flugzeuge geliefert. Die Elektro-Schalt-Werke AG (Ruhstrat) wurde als Spezialfabrik für elektrische Apparate besonders hervorgehoben. Im Krieg hatte sie die Reichsmarine mit Notbeleuchtungen versorgt, war aber bei der Ausschreibung für zwei neue Panzerkreuzer unberücksichtigt geblieben. Neben automatischen Notbeleuchtungen, insbesondere für Gasschutzräume, konzentrierte sich die Firma auf die Fabrikation von Kontaktwiderständen sowie elektrischen Hochtemperatur-Schmelz- und Glühöfen. Als weitere potentielle Zulieferer von Instrumenten wurden die Mechanischen Werkstätten August Fischer in der Hospitalstraße 7 (Erschütterungsmesser, Abhorch- und Schallmess-Geräte) sowie die Firma Kosmos (meteorologische Stationen für Heereszwecke, Quecksilber-Barometer) präsentiert.6
Baustelleneinrichtung Feinprüf Göttingen (BA Berlin)
Anfang September 1933 übersandte das Reichsarbeitsministerium dem Reichsminister der Luftfahrt in Abschrift das Schreiben des Göttinger Magistrats mit dem eindringlichen Wunsch, der Bitte auf Zuteilung von Aufträgen zu entsprechen. „Die Erhaltung der hochqualifizierten feinmechanischen Werkstätten Göttingens und des zu ihnen gehörenden Facharbeiterstamms“ liege „im Interesse der deutschen Wissenschaft und Volkswirtschaft“.7 Am 10. März 1934 brachte die Hauptgeschäftsstelle Göttingen der Industrie- und Handelskammer das Begehren beim Reichsminister der Luftfahrt in Erinnerung. Sie bat ihrerseits um Unterstützung und Feststellung, „welcher Bedarf an feinmechanischen, optischen und ähnlichen Instrumenten“ bei sämtlichen „in Frage kommenden Instituten der dortigen Verwaltung“ bestehe. Das Ergebnis sollte den beschaffenden Stellen mit