Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
Tag gefüllt werden konnten. Am 4. April 1945 kam es in der Fabrik zu einem Brand, der sich schnell ausbreitete und eine Explosion von 8.000 mit Sprengstoff gefüllten Minen auslöste. Die Füllstelle wurde nahezu vollständig zerstört. Bei dem Unglück kamen 29 Personen ums Leben; weitere 58 wurden schwer verletzt.15
Zusätzlich zu den bereits genannten Rüstungsstandorten hatte die Wifo in Langelsheim für 5,7 Millionen RM eine weitere Fabrikanlage auf Staatskosten erbaut. Die Chemischen Werke Harz-Weser stellten in den Gebäuden ab 1940 Aktivkohle für Gasmaskenfilter her. Die Kapazität lag bei monatlich etwa 150 t. Im April 1945 beschäftigte das Unternehmen 153 Personen.16 Die Pulver- und pyrotechnische Fabriken GmbH J. F. Eisfeld in Liebenburg nördlich von Goslar arbeitete seit 1936 ebenfalls für die Wehrmacht. Ihr Werk „Kunigunde“ produzierte unterschiedliche Schwarzpulversorten und stellte Nebelhandgranaten, Leuchtmunition, Landungsfackeln sowie Nebelbomben her.17
Die Langelsheimer Wifo-HOKO-Anlage in den 1940er Jahren
(Sammlung Frank Jacobs)
Von weitaus größerer wirtschaftlicher Bedeutung war die Neuansiedlung des Schickert-Werkes zur Herstellung von Wasserstoffperoxyd in Bad Lauterberg. Bereits während des Ersten Weltkrieges bestand Interesse an der militärischen Nutzung der chemischen Substanz, doch es fehlten noch die Mittel einer großtechnischen Herstellung. Sie wurden durch die Elektrochemischen Werke München (EWM) erst in den folgenden Jahren geschaffen. Der Kieler Chemiker und Ingenieur Dr. Helmut Walter hatte für das Oberkommando der Marine im Zusammenhang mit modernen Triebwerken neue Treibstoffe erforscht und erprobt. Seine Ergebnisse lösten einen wahren Entwicklungsschub aus. Er nutzte den bei der katalytischen Zersetzung von Wasserstoffperoxyd freiwerdenden Sauerstoff zur Verbrennung von Treibstoff und ermöglichte damit der Firma EWM die militärische Nutzung in großem Stil, auf die sie lange Zeit gewartet hatte.18 Es zeichnete sich bereits frühzeitig ab, dass das Unternehmen die geforderten Mengen an Wasserstoffperoxyd nicht an einem Standort herstellen konnte, zumal neben der Marine auch andere militärische Stellen Interesse bekundeten.
Die Schaffung einer weiteren Fabrikationsstätte war unausweichlich. Im Sommer 1938 fiel die Entscheidung für die Gründung einer Niederlassung im Odertal in Bad Lauterberg. Ausschlaggebend für die Ansiedlung in der Harzstadt war die Nähe zu der 1933 gebauten Odertalsperre, die hinreichend Wasser zur Kühlung der Elektrolyse und der Erzeugung von Wasserdampf bereithielt. Im August 1938 beauftragte die EWM den Architekten Proebst aus Ingolstadt mit der Bauplanung dieser „Anlage Z“ in Bad Lauterberg, die aus fünf identischen, voneinander aber völlig unabhängig arbeitenden Produktionseinheiten bestehen sollte.19 Am 8. Dezember 1938 wies der Reichsminister der Luftfahrt die Elektrochemischen Werke an, der Ausbau der Fabrik in Lauterberg habe sofort in vollem Umfang zu erfolgen, und ebenfalls sei mit der Projektierung eines zweiten Werkes in Rhumspringe mit fünf Einheiten umgehend zu beginnen. Die rechtlichen Grundlagen wurden dagegen erst knapp ein Jahr später mit der Unterzeichnung eines „Aufbauvertrages“ am 26. Oktober 1939 geschaffen, in dem sich das Reich verpflichtete, im Odertal bei Bad Lauterberg auf eigene Kosten ein Werk „zur Erzeugung von chemischen Stoffen für den Wehrmachtsbedarf“ zu errichten.20
Bei der Herstellung von Nebelbomben im Werk „Kunigunde“ in Dörnten bei Goslar (Sammlung Frank Jacobs)
Zum Zwecke der Geheimhaltung hatte sich EWM im September 1938 zur Gründung der Otto Schickert & Co. KG entschieden, die nach außen hin als Betreibergesellschaft des Bad Lauterberger Werkes hin auftrat. Ende Januar 1941 ging die erste Halle zur Erzeugung von 35%igem Wasserstoffperoxyd samt der zentralen Anlage zur Hochkonzentration der Chemikalie auf 80 – 85 % in Betrieb. Die zweite Halle zur Produktion von 35%igem Wasserstoffperoxyd lief im Sommer 1941 an. Der Bau von Halle 3 war im Frühjahr 1942 und von Halle 4 im November 1942 abgeschlossen.
Der Aufbau des Chemiewerkes war mit der Inbetriebnahme von Halle 5 im Juni 1944 vollendet. Die vom Reich zu übernehmenden Kosten für den Bau der Fabrik in Bad Lauterberg beliefen sich auf 70 Millionen RM.21 Bei der Planung des Rhumspringer Werkes kam es hingegen zu Verzögerungen infolge einer vorübergehend geringeren Nachfrage nach Wasserstoffperoxyd. Anfang Mai 1940 plädierte daher die Rüstungsinspektion Hannover beim RLM für eine Rückstellung des geplanten Zweigwerkes.22 Mitte Juni 1942 kam das Oberkommando der Marine auf die Vorplanungen aus dem Jahr 1938 zurück. In dem Bericht des Rüstungskommandos vom 18. Juni 1942 heißt es: „Die Bauarbeiten für das Werk Rhumspringe wurden auf Anordnung des OKM wieder aufgenommen und sollen mit großem Nachdruck vorangetrieben werden“.23 In Rhumspringe sollten wie in Bad Lauterberg fünf Produktionshallen errichtet werden, allerdings wurden die Pläne auf drei Hallen und die entsprechenden Hilfsgebäude zusammengestrichen. Die Produktion in Halle 1 sollte am 1. Mai 1945, in Halle 2 am 1. September 1945 und in Halle 3 am 1. März 1946 aufgenommen werden.24 Obwohl Ende Dezember 1944 über 1.300 Arbeitskräfte auf der Baustelle in Rhumspringe tätig waren,25 ließen sich diese Zeitvorgaben bei Weitem nicht einhalten. Bei Kriegsende waren von Halle 1 gerade mal die Fundamente gegossen. Die Arbeiten am zweiten Produktionsgebäude waren am weitesten fortgeschritten, so dass Schickert im Frühjahr 1945 mit dem Einbau des Maschinenparks begann. Die Produktionsaufnahme stand im März 1945 unmittelbar bevor.26
Das im Aufbau begriffene Schickert-Werk Bad Lauterberg, 1939 (Foto Lindenberg)
Großbaustelle Schickert-Werke Bad Lauterberg, 1939 (Foto Lindenberg)
Gesamtansicht des Lauterberger Schickert-Werkes, 1942 (Foto Lindenberg)
Modell des Schickert-Werkes Rhumspringe, 1942 (Sammlung Baranowski)
Ebenso nahm die seit 1885 in Hann.-Münden bestehende Firma Händler & Natermann Anteil am Rüstungsgeschäft.27 Spätestens ab 1942 stellte sie spezielle Aluminiumfolien für die Marine und Walzblei für die Accumulatorenfabrik Hannover (Afa) her. Zudem arbeitete der Betrieb als Zulieferer für die Deutschen Edelstahlwerke in Hannover (Panzerwaffenteile) und die Torpedo-Werkstätten in Eckernförde. Auch Feststellvorrichtungen für Bordfenster verließen die Fabrik. Außerdem lieferte Händler & Natermann den Polte-Werken Geschossdraht sowie spezielle Bleidichtungen für das U-Boot-Programm. Anfang Januar 1942 beschäftigte der Mündener Rüstungszulieferer 152 Arbeitskräfte.28 Im ersten Quartal 1944 übernahm die Firma als Ausweichbetrieb für die Berliner Bamag-Meguin AG zusätzlich die Produktion von Ruderfeststell-Vorrichtungen für Flugzeuge. Der Betrieb deckte etwa 25 % des Gesamtbedarfs der deutschen Flugzeugindustrie.29 Bis September 1944 kletterte die Beschäftigtenzahl auf 274; darunter befanden sich 45 Ostarbeiter und 37 weitere, zumeist aus Westeuropa stammende Arbeitskräfte.30
Die 1924 aus dem Goslarer Stadtgebiet nach Oker verlegte Gebrüder Borchers AG war ebenfalls in die Rüstungsproduktion einbezogen, mit heute noch einschneidenden Folgen für Umwelt und Natur. Das Unternehmen war bei der Herstellung von Wolfram und Molybdän marktbeherrschend. 1935 erwarb die Firma H. C. Starck von der Hildesheimer Bank die Aktienmehrheit an der Gebrüder Borchers AG und bildete gemeinsam mit Krupp, der Gesellschaft für Metallurgie und der I.G. Farben ein Konsortium zur Gewinnung einheimischer Rohstoffe zur Stahlveredelung. Um die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern, hatte es sich dieses „Ofensauenkonsortium“ zur Aufgabe gemacht, aus den Schmelzrückständen des Mansfelder Kupferschiefers Molybdän zu gewinnen, technologisch ein energieintensiver und äußerst umweltschädlicher Prozess. Die Anlagen wurden ab 1935 in Oker gebaut. Ein weiteres Standbein war die Produktion von Arsen als Vorprodukt von „Schädlingsbekämpfungsmitteln“ und offenbar auch chemischen Kampfstoffen.31