Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
die Esslinger Firma Carl Mahr, in Göttingen nach dem „Montan-Schema“ staatsfinanziert eine Fabrik für den Lehren- und Vorrichtungsbau „betriebsfertig einzurichten“. Sie sollte 150 bis 200 Mann mit der Herstellung von in erster Linie Gewindelehren beschäftigen. Eine zentrale Ausbildungsstätte für Lehrlinge im Lehrenbau sollte angeschlossen werden. Mahr blieb es überlassen, eine passende Fabrik um- oder auszubauen oder aber ein Grundstück zu erwerben und darauf einen kompletten Neubau zu errichten, doch sollten die Kosten 1,1 Million RM nicht überschreiten.9
Mahr gründete zu dem Zweck am 25. März 1936 die 100%ige Tochtergesellschaft „Feinprüf, Feinmeß- und Prüfgeräte GmbH“ und entschied sich für einen Neubau im Göttinger Brauweg, der umgehend begonnen wurde.10 Für die Inbetriebnahme konnte Mahr ebenfalls aus Staatsmitteln 20 Göttinger Arbeitskräfte sechs Monate lang im Esslinger Stammwerk schulen lassen.11 Im Mai 1937 war die ‚Werksanlage A‘ noch im Rohbau, allenfalls in Teilen betriebsbereit,12 da lagen schon erste Aufträge vor. Anfang 1937 bestellte das Heer eine Lieferung von Lehren, überwies auch gleich 50.000 RM.13 Die ersten 40 Lehren wurden am 8. Mai 1937 fertig.14 Feinprüfs Speziallehren dienten allen Munitionslieferanten der Wehrmacht zur Herstellung ihrer Geschosse.15 Im März 1938 verlangte das OKH von Feinprüf auf dem Gelände unverzüglich eine zweite Fabrik gleicher Größe, ein ‚Werk B‘, zu errichten.16 In den kommenden zwei Jahren wandte das OKH weiter hohe Investitionen in den Ausbau der Anlage auf; eine Zweigniederlassung im thüringischen Schmalkalden, das ‚Werk C‘, kam hinzu.17 Die besondere Wichtigkeit für die Kriegsvorbereitung von langer Hand unterstreicht, dass die Errichtungskosten der „Feinprüf“-Werke voll vom Reich getragen wurden, die Fabriken erst nach Fertigstellung über die staatseigene „Montan“ an Mahr verpachtet wurden. Die Pachtverträge wurden sehr viel später schriftlich fixiert, der zwischen der „Montan“ und Feinprüf am 30. Juni/31. August 1939, der Mantelvertrag zwischen Mahr und der „Montan“ am 26. April/2. Juli 1940.18
Baustelle ‚Werk A‘ des Feinprüf-Werkes im Göttinger Brauweg, 1937 (BA Berlin)
Blick von anderer Richtung auf die Feinprüf-Baustelle, 1937 (BA Berlin)
In Skelettbauweise errichte Feinprüf-Produktionshalle (BA Berlin)
Kriegsbedingt fand das Unternehmen ab November 1941 kein deutsches Fachpersonal mehr. In einem Schreiben an die „Montan“ äußerte Feinprüf am 19. November 1941 die Hoffnung, für das Werk Göttingen 30 und für Schmalkalden 20 französische Metallarbeiter rekrutieren zu können. Das Göttinger Stammwerk wollte die Franzosen „geschlossen in einem Gasthaus“ unterbringen und in der Werkskantine verpflegen. Die „Montan“ wurde gebeten, „die Aufforderung mit allem Nachdruck beim Reichsminister für Rüstung und Munition“ zu vertreten.19 Die letztendlich 60 bis 80 auf diesem Weg zugeteilten französischen Arbeiter quartierte die Firma dann im Gemeindehaus der Albani-Gemeinde in der Innenstadt ein.20 Ende 1942 bat die Firmenleitung den Kirchenvorstand, „die unteren Räumlichkeiten des Gemeindehauses zur Unterbringung von ausländischen Rüstungsarbeitern benutzen zu dürfen“. Der Mietvertrag wurde Mitte Januar 1943 geschlossen.21 Mindestens fünf weitere Franzosen waren in einem Steinbau in der Hospitalstraße untergebracht.22 Im März 1943 bekam „Feinprüf“ neun Ostarbeiter aus dem Durchgangslager Siemsen bei Recklinghausen zugewiesen.23 Im Oktober 1944 ging das Göttinger Werk ebenso wie die nach dem „Montan-Modell“ angepachteten Feinprüf-Fabrikationsstätten in Schmalkalden und Berlin-Neukölln in das Eigentum der Muttergesellschaft Mahr über. Der Anschaffungswert aller drei Betriebe hatte bei knapp acht Millionen RM gelegen, der Buchwert im Jahr 1944 betrug 5,3 Millionen RM. Davon hatte Mahr als Kaufpreis 85,7 % zu zahlen, mithin 4,947 Millionen RM.24 Ende 1944 beschäftigte Feinprüf Göttingen 690 Mitarbeiter, darunter ein Fünftel ausländische Zwangsarbeiter.25
Die Firma Josef Schneider & Co., Optische Werke, aus Bad Kreuznach hatte im Jahr 1936 ebenfalls Kapazitäten nach Göttingen verlagert; zunächst in das Stadtzentrum, Goethe-Allee 8a. Der Zweigbetrieb, zur Abarbeitung von Rüstungsaufträgen gegründet und ebenfalls mit Staatsmitteln gefördert, wurde am 9. April 1936 in das Handelsregister der Stadt eingetragen.26 Das Göttinger Werk stellte vorwiegend für die Luftwaffe optische Mess- und Bilderkennungsgeräte, Doppelfernrohre und Reflex-Visiere her.27 Die Einzelfirma wurde im Februar 1942 gelöscht. An ihre Stelle trat die Josef Schneider Optische Werke GmbH, die noch im selben Jahr das neu erbaute Fabrikgebäude in Weende an der Reichsstraße27 bezog.28 Ende Dezember 1944 beschäftigte der Göttinger Rüstungsbetrieb 653 Personen; darunter 46 Ost- und 37 Fremdarbeiterinnen anderer Herkunft, 76 männliche Ausländer sowie 41 französische Kriegsgefangene.29 Die Franzosen waren in einer Holzbaracke, zur Straßenseite mit Stacheldraht abgezäunt, auf dem Betriebsgelände selbst untergebracht.30
Ehemals Schneider & Co. in Weende, später ISCO, 1970er Jahre (Sammlung Karlheinz Otto)
Neben diesen in Göttingen neu angesiedelten Unternehmen kamen auch die alteingesessenen Firmen der feinmechanischen und optischen Branche in den Genuss von Rüstungsaufträgen in stetig steigender Zahl. Die Ruhstrat AG produzierte seit 1936 in ihrem Stammwerk in der Lange Geismarstraße 68 – 72 und ab 1942 im „Leinewerk“ in der Goethe-Allee (heute Am Leinekanal 4) Widerstände, Schiebetrafos, Verdunkelungseinrichtungen und Notbeleuchtungen. Zudem lieferte die Fabrik Abwurfgeräte und Zubehörteile wie Kolbenmagnete für Bombenschlösser.31 Wie schon im Ersten Weltkrieg war das Unternehmen erneut für die Marine tätig. So rüstete Ruhstrat U-Boote mit Akku-Notleuchten und Ladeschränken aus.32 Am 1. April 1940 beschäftigte der Betrieb 520 Personen; 119 waren im Bereich der Luftwaffenrüstung tätig.33 Ende Dezember 1944 war ihre Zahl allein im Hauptwerk auf 688 und im „Leinewerk“ auf 344 angewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren in beiden Niederlassungen 52 Ost- und 157 Ostarbeiter/innen sowie weitere 73 Ausländer im Einsatz.34 Die Russin Tamara Borisowna P., die im Juli 1942 als 13jährige deportiert und mit 37 anderen Zwangsarbeiterinnen Ruhstrat zugeteilt wurde, berichtet, sie habe zunächst an der Drehbank gearbeitet, dann Akkumulatoren mit Spezialsäure aufgefüllt. Schließlich sei sie an eine Fräsmaschine versetzt worden, und zwar in der Nachtschicht. Vor Müdigkeit habe sie die Maschine laufen gelassen, sei auf die Toilette gegangen und eingeschlafen. Der Meister habe sie entdeckt und mit kaltem Wasser begossen. Sie sei aufgeschreckt und habe dabei den Meister berührt. Das sei so ausgelegt worden, als hätte sie ihn geschlagen. Danach sei sie strafweise zu den Pelikanwerken nach Hannover gekommen.35
Das Ruhstrat-Stammwerk, Mitte der 1930er Jahre (Sammlung Baranowski)
Ruhstrat unterhielt für seine ausländischen Zwangsarbeiter auf einem Ziegeleigelände eine aus fünf Holzbaracken bestehende Sammelunterkunft.36 Auch Tamara Borisowna wurde in das von Ruhstrat betriebene Lager ‚Tonkuhle‘ gebracht. Das, so berichtet sie, wäre eines der schlimmsten Lager in Göttingen gewesen. Eingerichtet in einer alten Ziegelei, am Boden eines ausgebeuteten Tonlagers, so dass man den Himmel nur sah, wenn man den Kopf in den Nacken legte und so feucht, dass die Baracken auf Klötzen über dem Boden schwebend errichtet werden mussten.37 Gegen Ende des Krieges war dieses Lager ‚Tonkuhle‘ mit 250 Arbeitern belegt; 90 % waren Russen, die anderen Franzosen.38
Rede vor dem Ruhstrat-Stammwerk, 1938 (Sammlung Baranowski)
Der Laboreinrichtungshersteller Physikalische Werkstätten AG (Phywe), ein Göttinger Traditionsbetrieb, lieferte Nachrichtengeräte, Zünder, Frequenz-Prüfgeräte, Stromanzeige-Vorrichtungen für Schaltkästen und Auswurfklappen für das MG 42.39 Ende 1944 beschäftigte die Phywe 718 Personen,