Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
und Kartuschen waren das Eisenwerk Wülfel, die Maschinenfabrik Jünke & Lapp, die Firma Knoevennagel und die Metallwarenfabrik Theodor Stiegelmeyer vorgesehen. Die Blech- und Eisenkonstruktionsfirma Sorst & Co.103 war nicht nur als Hersteller von Kartusch- und Patronenhülsen, sondern auch von Torpedogerät, Packgefäßen, Sperrgerät (Bojen und Behälter) sowie Nebelwerfern eingeplant.
Teile für Minenwerfer, aber auch Kochanlagen für Kriegsschiffe sollten die Vosswerke liefern. Den Bode-Panzer-Geldschrankfabriken und der Hannoversche Waggonfabrik (HAWA) hatte die Reichswehr die Herstellung von MG-Dreifußgestellen und -Aufsätzen zugeordnet. Die Armaturenfabrik Dreyer, Rosenkranz & Droop104 sollte als Hilfsfirma der Magdeburger Mundlos AG, eigentlich eine Nähmaschinenfabrik, Torpedogerät und verschiedene Einzelteile zuliefern. Die Motorenfabrik Gebrüder Körting in Hannover-Linden hatte die Reichswehr als Hersteller von Flug- und Dieselmotoren sowie Ölfeuerungsdüsen eingebunden. Die Firma Wagenbau Jacobi sollte in Reserve Feldwagen bauen. Die Hackethal Draht- und Kabelwerke, reichsweit einer der bedeutendsten Kabelhersteller, sollte monatlich bis zu 130 km Zünd- und Sprengkabel, vier Kilometer Feldkabel sowie 60 km Bronze- und Kupferdraht bereitstellen. Die Gewecke GmbH, eine Holzgroßhandlung, war als Holzlieferant für Brückenbeläge und Schnellbrücken vorgesehen. Die Holzwerke Hainholz AG sollte monatlich bis zu 2.600 Transportkästen für Patronentrommeln abliefern. Packtaschen und Zaumzeug sollten die Lederwarenfabrik Ryffel & Borns, die Sattlerwarengroßhandlung Schütze und das Sattlergeschäft Passier & Sohn stellen.105 Die Continental-Gummi Werke AG, Lieferant von Kriegsmaterial schon im Ersten Weltkrieg,106 wurde als Hersteller von Schläuchen, Gummi- und Verpackungsmaterial sowie Gummidichtungen geführt.107 Ihr Generaldirektor seit 1926, Willy Tischbein, war Präsident der Industrie- und Handelskammer Hannover und zugleich Regionalkommissar der Stega.108
Damit nahm er eine Schlüsselstellung zwischen der Bedarfsentwicklung der Reichswehr und der Erkundung sowie Auswahl geeigneter Produktionsbetriebe ein. Konsequent nutzte er diese Doppelfunktion zugunsten der Hannoveraner Industrie, brachte sie in rüstungsrelevanten Bereichen ins Gespräch und positionierte sie derart erfolgreich, dass Hannover später zu einem Rüstungszentren des Reiches wurde. Doch die in Aussicht gestellten Rüstungsaufträge blieben anfänglich aus, so dass Tischbeins Engagement für Rüstungsfertigungen Hannovers Betrieben nicht über die Weltwirtschaftskrise hinweg halfen, sondern sich erst nach 1933 wirtschaftlich auswirkten.109
Ganz anders sah die Situation im Harz und dem Harzvorland aus. Die metallverarbeitende Industrie war dort allenfalls mit mittelständischen Unternehmen vertreten, von denen nur wenige den Anforderungen einer Massenproduktion genügten. In der Konzeption der Reichswehr vom November 1931 fanden nur zwei Betriebe aus Bad Lauterberg Berücksichtigung; die Franz Kuhlmann GmbH für die Herstellung von Feuerleitanlagen, Zündern für 2-cm-Munition und Nebelwerfern sowie die Monopol-Kolbenring-Fabrik Atmer & Kaufhold für 7,5-cm-Geschosse. An den Betrieben in der Universitätsstadt Göttingen hatte die Reichswehr keinerlei Interesse, obwohl gerade die optische und feinmechanische Industrie während des Ersten Weltkrieges ihre Kriegstauglichkeit unter Beweis gestellt hatte. Die wenigen nordthüringischen Unternehmen, die berücksichtigt wurden, waren – bis auf die Firmen im ‚Ballungszentrum‘ Sömmerda – meist nur als Unterlieferanten vorgesehen. Die Mühlhäuser Franke AG und die Thüringische Maschinen- und Fahrradfabrik Walter & Co. stufte die Reichswehr im November 1931 als mögliche Zulieferer für Rüstungsgüter ein, Walter & Co. etwa für die Karabiner-Produktion der Firma Sauer & Sohn in Suhl.110
In Nordhausen war das metallverarbeitende Gewerbe stärker ausgeprägt als in Mühlhausen. Es blieb trotz der Stagnation, die in den Jahren zuvor durch das Wegbrechen von Absatzmärkten eingetreten war, nach der Genussmittel- und der Textilindustrie die drittgrößte Branche der Stadt. Besonders negativ hatte sich der Niedergang der Südharzer Kaliwerke ausgewirkt. Sie waren Hauptabnehmer der in Nordhausen hergestellten Bergbaumaschinen.111 So hatte besonders der Maschinen- und Apparatebau mit beträchtlichen Umsatzrückgängen zu kämpfen, allen voran die drei Firmen Schmidt, Kranz & Co., Angers Söhne sowie MABAG (Maschinen- und Apparatebau). Anfang 1931 erschien ihr Fortbestehen höchst fraglich.112 So weckte die Betriebserkundung, die die Reichswehr im gleichen Jahr in Nordhausen unternahm, bei den Unternehmen Hoffnung auf neue Absatzmärkte durch Einbeziehung in die Wiederaufrüstung.113 Zunächst wurden jedoch nur die Maschinenfabrik Julius Fischer sowie die Firmen Montania und MABAG eingeplant.114
Als einen weiteren tragenden Pfeiler ihres Aufrüstungsprogramms hatte die Reichswehr Rheinmetall in Sömmerda auserkoren. Bereits im Oktober 1922 hatte das Werk den Auftrag erhalten, sämtliche Zünder in der von den Alliierten genehmigten Menge herzustellen; tatsächlich fabrizierte das Werk unter der Hand weitaus mehr. Schon zu Beginn der 1920er Jahre hatte Rheinmetall Sömmerda wieder die Weiterentwicklung von Maschinengewehren aufgenommen. Aufdeckung durch deutsche Behörden musste der Konzern allerdings nicht fürchten.115 Im Gegenteil, seit 1922 erhielt das Unternehmen zur Erweiterung seiner Rüstungskapazitäten erhebliche Finanzhilfen vom Heereswaffenamt; im Jahr 1926 allein 1,6 Millionen RM.116 Daher ist nicht verwunderlich, dass Rheinmetall in den Planungen der Reichswehr vom November 1931 eine zentrale Stellung einnahm. Monatlich sollten mehr als 400.000 Zünder das Werk verlassen. Daneben war Rheinmetall als Hersteller von Zieleinrichtungen erfasst.117 In Sömmerda hatte die Reichswehr ebenfalls die wirtschaftlich eng mit dem I.G.-Farben-Konzern verknüpfte Selve-Kronbiegel-Dornheim AG (Selkado) als Hersteller von monatlich bis zu 80 Millionen Zündhütchen und 81.000 Reibezündhütchen für Stielhandgranaten vorgesehen.118
Unter Rückgriff auf die Erkundungen der vorangegangenen Jahre ging die Reichswehr nach der NS-Machtergreifung unverzüglich daran, die bis dahin erfassten Betriebe zielgerichtet anzusprechen und die Sondierung zu intensivieren. Bis Mitte 1934 wurden etwa 2.800 von ihnen mit ersten Rüstungsaufträgen bedacht.119 Bereits im August 1934 hatte die Reichswehr – gemessen an der Arbeiterzahl – 59 % der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbauindustrie erkundet und für den Kriegsfall mit Produktionen belegt. In der Eisen- und Stahlindustrie waren es 56 %, in der Chemieindustrie allerdings nur 25 %.120 Im Untersuchungsgebiet der vorliegenden Studie fanden nahezu alle vom Heereswaffenamt erfassten Firmen Berücksichtigung. Die in den 1920er Jahren angelegten Strukturen blieben erhalten, ebenso die Bevorzugung bestimmter Regionen. Dieses zeigen nicht nur die Industriebetriebe des Großraums Hannover – Braunschweig, sondern ebenfalls die schon in den Entwürfen von 1931 überproportional gewichteten Rüstungsstandorte Sömmerda,121 Suhl/Zella-Mehlis, Gotha, Eisenach und Erfurt.122 Von dieser Entwicklung konnten in beschränktem Umfang auch die Unternehmen in Nordthüringen und dem heutigen Südniedersachsen (Kreise Göttingen, Goslar, Osterode sowie Northeim)123 zehren, die in den frühen Planungen der Militärs zunächst noch keine Berücksichtigung gefunden hatten. Im Zuständigkeitsbereich der Wehrwirtschaftsinspektion Hannover standen im April 1938 nahezu 200 Betriebe als Zulieferer für die Luftwaffenrüstung unter Vertrag. Lediglich die Wehrinspektionen III (Berlin) und VI konnten zu diesem Zeitpunkt mit 351 und 310 mehr Betriebe melden, ein weiteres Zeugnis für die Bedeutung der Rüstungsindustrie im südniedersächsischen Raum, die etwa ein Jahr vor dem Überfall auf Polen in der Luftwaffenrüstung reichsweit den dritten Rang einnahm.124 Nennenswerte rüstungsbedingte Zuwächse verzeichnete insbesondere die Metallindustrie, in Göttingen und Braunschweig vor allem die optischen und feinmechanischen Betriebe.125
Für eine wirtschaftliche Belebung sorgten weiterhin zumeist mit Staatsmitteln gebaute Rüstungsbetriebe, wie das Bosch-Zweigwerk in Hildesheim sowie die schwerpunktmäßig im Oberharz innerhalb weniger Jahre hochgezogenen Sprengstoffwerke und Chemiefabriken. Trotz dieser Anstrengungen konnten selbst die großen niedersächsischen Industriestandorte isoliert betrachtet nicht mit den ‚auf der grünen Wiese‘ errichteten Rüstungszentren Schkopau (Buna) und Salzgitter (Hermann-Göring-Werke) konkurrieren. Jedoch als Einheit gesehen stellten die Betriebe von Hannover über Braunschweig und Salzgitter bis in den Harz einen der bedeutendsten Rüstungskomplexe des Reiches dar.
Die von der Reichswehr in aller Stille getroffenen Vorbereitungsmaßnahmen – nach Abzug der IMKK im April 1927126 mit Billigung der Regierung noch intensiviert – legten die Grundlage der NS-Aufrüstungspolitik. Ohne diesen Vorlauf wäre die rasche und erstaunlich reibungslose Wiederaufrüstung seit 1933 undenkbar gewesen.127 So aber lagen konkrete Belegungspläne der langfristig erfassten Rüstungsbetriebe vor, die genau wie die Blaupausen neuer Waffen nur noch ‚aus