Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
waren – bis auf den geringen Bedarf der wenigen zugelassenen Firmen – an die Alliierten abzugeben oder zu vernichten.2
Selbst die noch zugestandene Rüstungsproduktion unterlag erheblichen Restriktionen. Die Herstellung bestimmter Waffen und Kampfmittel, etwa von Panzern, Flugzeugen, schweren Geschützen und Gaskampfstoffen, war gänzlich verboten. Weder durften jährliche „Höchstfertigungszahlen“ überschritten noch Kriegsmaterial aus dem Ausland importiert werden. Besonders einschneidend wirkte sich für die deutsche Industrie das Verbot der Ausfuhr von Rüstungsgütern aus, entfiel so doch die Möglichkeit, unter dem Deckmantel von Exporten wichtige Betriebsmittel und Einrichtungen vor der Demontage oder Vernichtung zu retten.3 Um die Einhaltung der Beschränkungen ständig zu überwachen, hatten die Siegermächte eine Interalliierte Militär-Kontroll-Kommission (IMKK) zusammengestellt, die befugt war, sich jederzeit frei im Land zu bewegen.4 Angesichts der massiven Kontrolle der IMKK blieb dem Gros der Rüstungslieferanten des Ersten Weltkrieges zunächst nichts anderes übrig, als ihre Produktion auf zivile Güter umzustellen. Zur Umgehung dieser Begrenzungen durch den Versailler Vertrag versuchten jedoch größere Unternehmen wie Rheinmetall und Zeiss, zumindest Teile ihrer Rüstungskapazitäten ins neutrale Ausland zu verlagern, vor allem nach Österreich und in die Niederlande. Soweit das in geringem Umfang möglich war, geschah es zumeist über die Gründung von Tochterunternehmen im Ausland oder mittelbar über die Beteiligung an ausländischen Firmen.5
Mehr noch als die Industrie war die Reichswehr selbst von den Bestimmungen des Versailler Vertrages existenziell betroffen. Er legte die Stärke des Heeres auf 100.000 Mann, der Marine auf 15.000 Mann fest. Bis ins Detail wurde die Gliederung der künftigen deutschen Streitkräfte vorgeschrieben. Bewaffnung, Ausrüstung und Munitionsbestände durften ein bestimmtes Soll nicht überschreiten, der Besitz von schweren Geschützen, Panzern, Flugzeugen und Gaskampfstoffen wurde völlig untersagt.6 Die Reichswehroffiziere waren nicht gewillt, diesen Zustand auf Dauer hinzunehmen. Sie gingen davon aus, dass die Maßnahmen des Versailler Vertrages lediglich temporären Charakter hätten und am Ende nur die Restauration der Monarchie und die Wiederherstellung der privilegierten Stellung des Militärs stehen könne. General von Seeckt, seit Juli 1919 Chef des Truppenamtes, de facto des Generalstabes der Reichswehr, hatte auf der Konferenz von Spa im Juli 1920 erfolglos versucht, durch Zugeständnisse den Alliierten wenigstens ein 200.000-Mann-Heer abzuringen. Noch am Tag seiner Rückkehr aus Spa, dem 10. Juli 1920, legte er, nunmehr Chef der Heeresleitung, in einem Bericht den Offizieren im Reichswehrministerium die Vergeblichkeit seiner Mission angesichts der alliierten Unnachgiebigkeit dar.7 Anfang 1921 sah von Seeckt zwei Möglichkeiten, eine Revision der Rüstungsbeschränkungen zu erreichen, zum einen die Milderung der Vertragsbedingungen durch Konzessionen der Alliierten, zum anderen die einseitige Aufkündigung des Vertrages durch Deutschland, sobald die Kräftekonstellation dies ermögliche.8 Nach seinen Erfahrungen vom Juli 1920 dürfte von Seeckt keine Erwartungen auf erneute Verhandlungen gerichtet haben. Vielmehr regte er zu dem Zeitpunkt den Aufbau eines 63 Divisionen starken Heeres an und schlug den Umbau der Reichswehr zum „Führerheer“ vor. Flankierend forderte von Seeckt, sich mit der Industrie in Verbindung zu setzen, um „zur Verteidigung in jedem Zeitabschnitt die Mittel zu gewinnen“ und „die technische Überlegenheit zu erreichen“.9
Am 15. Juli 1921 hatte die IMKK 30 Betrieben die Zulassung zur Rüstungsproduktion erteilt; 1927 erweiterten die Siegermächte den Kreis um drei Unternehmen.10 Autorisierte Firmen waren u. a. der Krupp-Konzern und die Vereinigte Stahlwerke AG für die Erzeugung von Geschützrohren und Panzerplatten. Die Sprengstoffherstellung und die Entwicklung neuer Sprengstoffe waren für die Dynamit-Nobel AG und die Westfälisch-Anhaltische Sprengstoff AG (WASAG) genehmigt. Simson & Co. in Suhl besaß als einziges Unternehmen die Zulassung für die Fabrikation von Handfeuer- und Maschinenwaffen. Elektrische Geräte, Scheinwerfer und Kommandogeräte wurden von der Siemens-Schuckert AG produziert. Die Entwicklung von Nachrichtengeräten konzentrierte sich bei Telefunken und bei der Lorenz AG. Carl Zeiss Jena entwickelte und lieferte optische Vorrichtungen für das Heer und die Marine. Auch die Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik AG (Rheinmetall) und die Borsig AG waren als Rüstungsproduzenten zugelassen.11 Die Gebrüder Thiel-Seebach GmbH in Ruhla lieferte Granatzünder.12 Obwohl die genannten Firmen damit die Produktion der ihnen zugewiesenen Rüstungsgüter wieder hätten aufnehmen können, unterblieb das zunächst, weil es die Reichsregierung wegen der „innerpolitischen Spannungen und […] der pazifistischen Einstellung der Masse der Arbeiterschaft“ untersagte.13 Erst nach den Unruhen in Bayern hob das Kabinett im Mai 1924 das Verbot auf. Bis die Betriebe die ihnen erlaubte Produktion wieder aufgenommen hatten, vergingen weitere Monate, teilweise Jahre.14
In Fortsetzung seiner revisionistischen Ziele hatte Hans von Seeckt Ende 1923 die Planungsaufgabe für ein Kriegsheer von 2,8 Millionen Mann gestellt. Neben 63 Felddivisionen und 39 Grenzschutzdivisionen sowie fünf Kavelleriedivisionen waren Ersatztruppen (450.000), Heerestruppen – also Ergänzungstruppen (395.000) – und Luftstreitkräfte (154.000) vorgesehen.15 Ein erster Entwurf lag bereits im Dezember 1923 vor und wurde von den Mitarbeitern des Truppenamtes in den folgenden Jahren weiter überarbeitet und modifiziert. Dieser „Große Plan“ war eine detaillierte Beschreibung der Reichswehr in einem unterstellten Kriegsfall, untergliedert nach Kommandobehörden, Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Luftstreitkräfte.16 Schnell stellte sich heraus, dass sich das Konzept mittelfristig nicht nur wegen fehlender finanzieller Mittel nicht durchsetzen ließ. Im Juni 1925 führte der Nachschubstab des Heereswaffenamtes (Deckname „Andreas“) eine „Prüfung der praktischen Durchführbarkeit des Kriegsorganisationsplanes“ durch. In der Stellungnahme des zuständigen Sachbearbeiters heißt es, dass der „Gedanke, mit Hilfe von Kriegsspielen die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit der Rüstungsarbeiten, Mobilmachungsvorarbeiten und Mobilmachungsarbeiten nach Umfang und Aufbau zu prüfen“, begrüßenswert sei. Er regte an, im Rahmen dieses „Kriegsspiel-Beispiels“ die Verteilung der Rüstung (d. h. der entsprechenden Produktionsaufträge) auf die Fabriken und die Auslandsbeschaffungen zu klären sowie Entwürfe für die materielle Mobilmachung durch Umstellung der Industrie zu Kriegszwecken und die Auftragserteilung an die Fabriken zu erstellen. Als erster Schritt müsse festgestellt werden, was in den heimischen Fabriken in dem vorgesehenen Zeitraum produziert werden könne.
Eine solche Erfassung gestalte sich allerdings als sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. So seien, „veranlasst durch das Versailler Diktat […] in den letzten Jahren enorme Zerstörungen und vielfache Zerstreuungen der Produktionsmittel in Deutschland vorgenommen worden“. Hierdurch hätten sich die Fertigungsmöglichkeiten wesentlich geändert. Statische Angaben, soweit sie nicht aus jüngster Zeit stammen, seien daher wertlos. Erschwert werde dies dadurch, dass die betroffenen Firmen aus Gründen der Konkurrenz und Anwesenheit der IMKK nur sehr ungern Einblick in ihre Produktionsverhältnisse gäben. Damit fehle dem ‚Spiel‘ augenblicklich die wichtigste Grundlage. „Diese Mängel in Fabrikenkenntnis und Organisation werden ganz gleich, ob für Rüstungshauptzeit, Kriegszeit, Ausgangslage, ‚Einlagen‘ immer wieder hervortreten. Ohne genaue Kenntnis der Leistungsfähigkeit der Industrie und ohne fertige Spitzenorganisationen bleibt jedes derartige Kriegsspiel Fantasie“. Ebenso wurden Zweifel an der Kriegsorganisation in der bis dahin vorgeschlagenen Form erhoben, die sich „noch nicht als Gebäude für ein Kriegsspiel“ eigne. So seien in der Spitzenorganisation noch grundsätzliche Fragen unentschieden und der weitere Ausbau unfertig.17
Dennoch ließ das Militär keinen Zweifel daran, dass „jedes Liebäugeln mit der Möglichkeit einer friedensmäßigen Heereserweiterung […] im Sinne unserer Arbeiten ebenso Utopie wie das Liebäugeln mit der schwindenden Größe der alten Armee“ sei.18 Bis 1924 unterhielten die einzelnen Beschaffungsabteilungen des Waffenamtes unterschiedlich intensive Beziehungen zu den Rüstungsproduzenten, und völlig unkoordiniert waren auch die Waffenkäufe, die sie dort tätigten. Das führte zum Teil zu chaotischen Zuständen bei der Ausrüstung. Zur Abhilfe wurden im November 1924 die einzelnen Fachabteilungen dem Nachschubstab des Waffenamtes untergeordnet, der zwei Aufgaben hatte. In einem ersten Schritt sollte er den rüstungswirtschaftlichen Ist-Stand ermitteln und fortlaufend Unterlagen zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie liefern, um so Mobilmachungspläne auf eine wirtschaftliche Grundlage zu stellen. In einem zweiten Schritt sollte der Nachschubstab Kontakt mit weiteren Betrieben