Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
In den Unterlagen der Krankenkassen fand er umfassendes statistisches Material, mit dem sich die Bedeutung des Zwangsarbeitereinsatzes quantitativ ermessen ließ. 2006 legten Günther Hein und Claudia Küpper-Eichas ihre Untersuchung zur Arbeits- und Wirtschaftsgeschichte im Oberharz in der Zeit des Nationalsozialismus vor, die insbesondere aus Unternehmersicht die Notwendigkeit beleuchtet, Zwangsarbeiter einzusetzen.51
In Nordthüringen – den Landkreisen Nordhausen, Eichsfeld, Mühlhausen und Sömmerda – sind Zwangsarbeit und Rüstungsindustrie bislang nur in Ansätzen erforscht. Zwar hat der Autor dazu veröffentlicht,52 doch darüber hinaus liegen nur wenige Monographien oder Regionalstudien vor.53 Mit dem rüstungswirtschaftlichen Strukturwandel im gesamten Land Thüringen befassen sich zwei Arbeiten von Jürgen John und die jüngst von Markus Fleischhauer veröffentlichte Struktur- und Funktionsgeschichte des NS-Gaus Thüringen.54 Ein Beitrag von Wolfgang Bricks und Paul Gans über die staatlich gesteuerte Industrieansiedlung ergänzt diese Erkenntnisse.55 Annegret Schüles Arbeit über die Geschichte des Rheinmetall-Werkes in Sömmerda spannt einen Bogen von der Gründung des Unternehmens über die geheime Wiederaufrüstung während der Weimarer Republik bis hin zur nationalsozialistischen Firmen- und Personalpolitik. Auch die Nachkriegszeit spart sie nicht aus.56 Weitere Informationen lassen sich dem achten Band des Heimatgeschichtlichen Wegweisers zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945 in Thüringen entnehmen.57
Die 2002 von Norbert Moczarski, Bernhard Post und Katrin Weiß herausgegebene, klar gegliederte Quellenedition zur Zwangsarbeit in Thüringen 1940 – 1945 bietet Material für weiter reichende Erkenntnisse zu Kriegsproduktion, Arbeitskräftemangel sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitskräfte.58 Aussagekräftig und bewegend zugleich sind die in Buchform veröffentlichten Erinnerungen von Krystyna Ewa Vetulani-Belfoure über ihr Leben als polnische Zwangsarbeiterin in Nordhausen in den Jahren 1942 – 1945.59 Das KZ-Lagersystem in Nordthüringen und in Niedersachsen ist dagegen durch die Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre gut dokumentiert.
Die westdeutsche Geschichtsforschung hatte die Konzentrationslager bis Ende der 1950er Jahre nahezu komplett ausgeblendet. 1962 eröffnete Eberhard Kolbs Monographie über Bergen-Belsen die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem KZ-Einzellager.60 Drei Jahre später veröffentlichte Martin Broszat seine grundlegende Gesamtdarstellung über die nationalsozialistischen Konzentrationslager, die aus einem Gutachten für den Frankfurter Auschwitz-Prozess hervorging.61 Mit seinen „Studien zur Geschichte der Konzentrationslager“ legte Broszat Einzeluntersuchungen zu sechs Konzentrationslagern vor, darunter auch Mittelbau-Dora.62 Damit endete im Westen bereits diese erste Phase der Auseinandersetzung mit der Geschichte nationalsozialistischer Konzentrationslager. Bis auf Falk Pingels Arbeit über „Häftlinge unter SS-Herrschaft“63 fand über Jahre hinweg eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema nicht statt. Die wichtigen Studien westdeutscher Historiker ließen sich bis Ende der 1970er Jahre problemlos auf einem Regalmeter unterbringen. Mit vornehmlich regionalgeschichtlichen Ausarbeitungen erwachte die KZ-Forschung erst Mitte der 1980er Jahre zu neuem Leben. Dem zweibändigen, von einem Autorenteam unter Leitung von Rainer Fröbe erarbeiteten Sammelband über Konzentrationslager in Hannover64 folgten bald zahlreiche zum Teil ins Detail gehende Untersuchungen über verschiedene KZ-Außenlager.65
Für Niedersachsen sind insbesondere die Arbeiten von Gudrun Pischke66 und Gerd Wysocki zum KZ-Komplex der Reichswerke zu nennen,67 weiterhin die Publikationen von Karl Liedke zu Braunschweig,68 von Detlef Creydt zum Buchenwalder KZ-Lager „Hecht“69 sowie von Janet Anschütz und Irmtraud Heike zum KZ-Außenkommando Ahlem bei Hannover.70 Unter dem Titel „Der Ort des Terrors“ veröffentlichten Wolfgang Benz und Barbara Distel in sieben seit 2005 erschienenen Bänden die bislang umfassendste Untersuchung zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Verschiedene Autoren stellten in Einzelartikeln als Grundlage für weitere Forschungen fest, welches die einzelnen Entwicklungsphasen der Hauptlager waren und wie ab 1942 rasch zunehmend die Außenlager entstanden.71 2009 veröffentlichte das United States Holocaust Memorial Museum den ersten Teil einer umfassenden Enzyklopädie zum nationalsozialistische Lagersystem, beginnend mit den frühen Lagern, den Konzentrationslagern und ihren Subkommandos.72
Für das Konzentrationslager Buchenwald steht eine vergleichende Strukturanalyse der Verhältnisse in den verschiedenen Außenlagern noch aus. Nach Jens-Christian Wagners Arbeit für den Komplex Mittelbau-Dora haben die kürzlich von Marc Buggeln für das KZ Neuengamme veröffentlichte Arbeit sowie die von Bertrand Perz und Florian Freund für das Außenlagersystem von Mauthausen Modellcharakter. Alle drei Ausarbeitungen untermauern, dass die Überlebenschancen der Häftlinge wesentlich von der Art der Arbeit, zu der sie eingesetzt wurden, abhingen.73 Es bleibt abzuwarten, ob die Feststellungen auf das System der Außenlager von Buchenwald übertragbar sind. In der Vergangenheit war die Räumung der Buchenwalder Außenkommandos vergleichbar schlecht erforscht. Diese Lücke wurde im Jahr 2008 durch die Arbeit Katrin Greisers geschlossen.74
Die Entwicklung der Buchenwalder Außenkommandos zum Konzentrationslagerkomplex Mittelbau-Dora und seine Bedeutung innerhalb des Lagerkosmos – insbesondere die Gründung einer Vielzahl neu gegründeter Sub- und Außenkommandos – ist verhältnismäßig gut dokumentiert, auch wenn Neander in seiner Dissertation von 1996 noch schrieb, es handele sich um ein weithin „vergessenes Lager“, ja sogar „eines der bislang am wenigsten bekannten und erforschten nationalsozialistischen Konzentrationslagern“.75 Diese Aussage mag auf frühe Darstellungen des KZ-Komplexes zutreffen, ist heute aber nicht mehr gerechtfertigt.76 Auf westdeutscher Seite gehörte das KZ Mittelbau-Dora zu den wenigen Lagern, die schon 1970 in Broszats „Studien zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ vorgestellt wurden.77 Bis Ende der 1980er Jahre blieben auf westlicher Seite mit Ausnahme der technik- und militärgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten von Manfred Bornemann78 – und insoweit ist Neander zuzustimmen – weitere nennenswerte Impulse aus. Anders die Situation in der DDR. Dort waren bereits in den 1960er Jahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen zum KZ Mittelbau-Dora entstanden, die allerdings nur schwer zugänglich waren, da sie meist nur in wenigen Exemplaren aufgelegt oder nur im kleinen Rahmen veröffentlicht wurden. Es handelte sich dabei um Arbeiten einer von Professor Walter Bartel79 betreuten studentischen Forschungsgruppe, die an der Berliner Humboldt Universität zwischen 1966 und 1970 sehr detailreiche Diplomarbeiten und Dissertationen hervorbrachte.80 Ende der 1960er Jahre war das KZ-Mittelbau in der DDR weitaus besser erforscht, als die ebenfalls in Ostdeutschland gelegenen ‚größeren‘ Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Allerdings beschränkten sich die Arbeiten weitgehend auf die Darstellung von Einzelaspekten des Stammlagers und seine Rolle für die Rüstungsindustrie. Die Außenlager und Subkommandos Doras spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die in der DDR bis 1990 veröffentlichten Arbeiten griffen fast ausschließlich auf die Ergebnisse der Berliner Forschungsgruppe zurück. Neue Erkenntnisse blieben seit Anfang der 1970er Jahre aus.
Seit Anfang der 1990er Jahre vermitteln sowohl Gesamtdarstellungen als auch Untersuchungen einzelner Aspekte der Lagergeschichte und Einzeldarstellungen zu den Subkommandos ein sehr genaues Bild vom System des KZ Mittelbau-Dora. Joachim Neander dokumentiert in seiner bereits genannten Dissertation und in weiteren Arbeiten ausführlich die Auflösung des Lagerkomplexes im April 1945 sowie die Todesmärsche und ihre Routen.81 Teils noch unveröffentlicht sind Oliver Taukes Analyse zur Funktion der Häftlingskrankenbauten und Olaf Mußmanns Forschungsergebnisse über die Funktionshäftlinge sowie die italienischen Häftlinge im KZ-Komplex Mittelbau-Dora.82 Die Geschichte einzelner Dora-Außenkommandos haben Jürgen Müller („Dachs IV“), Thilo Ziegler (Raum Sangerhausen), die Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion (Lager der Helmetalbahn), Joachim Neander und der Autor aufgearbeitet.83 2000 legte der französische Historiker und ehemalige Mittelbau-Häftling André Sellier seine umfangreiche Darstellung der Lagergeschichte vor, die als ‚Innen-Ansicht‘ wertvoll ist.84 Sehr viel grundsätzlicher gehen Rainer Eisfeld und Michael Neufeld in ihren Monographien den Gesamtkomplex Mittelbau-Dora an. In ihren umfassenden Darstellungen bildet die Frage nach Verantwortung von Wissenschaft und Technik für die Zwangsrekrutierung von KZ-Häftlingen für die Raketenproduktion den zentralen Schwerpunkt.85
Maßstäbe setzt der Historiker und Direktor der Gedenkstätte Jens-Christian Wagner mit seinen Arbeiten.86 Ihm gelang schon 2001 in seiner Dissertation mit dem Titel „Produktion