Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
waren, auslagerte. Er ließ dort von mehr als 500 Häftlingen des werkseigenen KZs Flugzeugrümpfe montieren.8
Es lässt sich nachweisen, dass der zeitversetzte Rüstungsaufschwung nicht nur infrastrukturelle Gründe hatte. Vielmehr war er im heutigen Niedersachsen bereits in der Weimarer Republik angelegt und hatte seine Grundlagen in den frühen, unter Verletzung der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages betriebenen Aufrüstungsbestrebungen der Militärs. Die ‚Flucht aufs Land und in die Provinz‘, insbesondere in das bis 1943 nur untergeordnet mit Rüstungsaufträgen bedachte Nordthüringen, war hingegen einzig aus der Not des alliierten Bombenkriegs und dem Streben nach Dezentralisierung der Kriegsmaschinerie erwachsen, ohne nachhaltige Auswirkungen auf die Zeit nach dem Krieg. Zur Verdeutlichung dieser in Schüben vollzogenen Entwicklung sind die Steuerungsmechanismen aufzudecken und die an dem Prozess beteiligten administrativen Entscheidungsinstanzen auf politischer und militärischer Ebene zu benennen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Verantwortung, Schuld und ‚Täterschaft‘, insbesondere von Industrie und Wirtschaft.
Nachdem die ‚Quelle‘ ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener nahezu versiegt war, griffen die Unternehmen verstärkt auf das letzte noch verbliebene Arbeitskräftereservoir zurück und integrierten in zunehmendem Maße KZ-Häftlinge, zum Teil in Baracken unmittelbar neben der Fabrik untergebracht, in ihren Produktionsablauf. In diesem Zusammenhang sind die unterschiedlichen Lebens- und Existenzbedingungen in der Fabrik und in der Vielzahl an Untertagebaustellen der SS zu untersuchen und bestehende Unterschiede aufzuzeigen. Abschließend ist zu erörtern, ob es ein gezieltes Programm der „Vernichtung durch Arbeit“ gab, also der Einsatz von Häftlingen Mittel zum Zweck ihrer Vernichtung war, oder ob die Vernichtung eine einkalkulierte, nicht aber vorsätzlich und willentlich herbeigeführte Folge des Zwangsarbeitereinsatzes war.
Forschungsstand
Nach der Kapitulation Deutschlands Ende des Ersten Weltkriegs hatte das Offizierkorps erleben müssen, wie Heer und Marine auf einen Bruchteil ihrer Vorkriegsstärke reduziert wurden und wie die ehemals privilegierte Stellung des Standes in Staat und Gesellschaft ins Wanken geriet. Gleichermaßen betroffen waren die großen deutschen Rüstungsunternehmen, die nicht nur ihre lukrativen und gewinnträchtigen Aufträge verloren hatten, sondern darüber hinaus unter Kontrolle der Alliierten entmilitarisiert wurden und einen Großteil ihres Maschinenbestandes abzugeben hatten. Der Versailler Vertrag legte der Industrie enge Beschränkungen auf und reglementierte die Herstellung von Rüstungsgütern, die bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr zugelassen waren, auch nicht für den ausländischen Markt. Wirtschaftsunternehmen und Militär standen dem neuen Staat daher gleichermaßen ablehnend gegenüber. Die Reichswehr war nicht gewillt, den eingetretenen Zustand auf Dauer hinzunehmen und strebte schon zu Beginn der 1920er Jahre die Restauration ihrer bisherigen Macht an, nötigenfalls durch einen Angriffskrieg. Im Rahmen ihrer „wirtschaftlichen Mobilmachungsvorarbeiten“ unterhielt die Reichswehr ab 1923 hinter dem Rücken und ohne Kenntnis der Reichsregierung Beziehungen zur Industrie, die der umfassenden Vorbereitung der gesamten Wirtschaft auf ihren Einsatz im Kriegsfalle dienten.1 Spätestens ab 1926 lagen in den Schubladen der verantwortlichen Reichswehroffiziere konkrete Pläne für die Aufstellung eines 21-Divisionen-Heeres.2 Um den daraus resultierenden Bedarf zu decken, ging der Nachschubstab des Heereswaffenamtes frühzeitig daran, in Frage kommende Rüstungsfirmen systematisch zu erfassen und ihnen bedingt mit finanziellen Mitteln, teils aus „schwarzen Kassen“, unter die Arme zu greifen.3 Diese vorbereitenden Handlungen der Reichswehr bildeten die Grundlage der NS-Aufrüstungspolitik, und ohne sie wäre eine rasche ‚Mobilmachung‘ nach 1933 undenkbar gewesen. Die bisherige Literatur hat ihren Fokus auf die Aufrüstungsbestrebungen des neuen Regimes ab 1933 gerichtet und ist zumeist nur am Rande auf die Vorarbeiten der Reichswehr eingegangen.4 Bis heute gibt es nur eine sehr überschaubare Zahl an Studien, die das Thema der frühen Aufrüstungsbestrebungen der Reichswehr aufgegriffen oder gar zum Kernthema gemacht haben.
Schon in den 1950er Jahren hatte sich Hallgarten der Thematik angenommen und die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee aufgezeigt.5 Außerdem ist die von General Georg Thomas im Oktober 1944 zum Abschluss gebrachte Arbeit über die „Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft“ zu nennen, die 1966 von Wolfgang Birkenfeld neu herausgegeben wurde.6 Von November 1928 an war Thomas nach seiner Ernennung zum Major im Heereswaffenamt des Reichswehrministeriums führender Kopf in Fragen der Bedarfsplanung für den Kriegsfall. Aus seiner Feder stammt die am 22. November 1928 Reichminister Groener vorgelegte Denkschrift über „Zweck, Notwendigkeit und Umfang der wirtschaftlichen Aufstellungsarbeiten“.7 Als Chef des Stabes des Heereswaffenamtes erlebte der zwischenzeitlich zum Oberstleutnant aufgestiegene Thomas die ‚Machtübernahme‘ Hitlers. Am 1. September 1934 wurde er zum Leiter der neu errichteten Dienststelle „Wehrwirtschafts- und Waffenwesen“ im Wehrmachtsamt des Reichswehrministeriums ernannt. In den ersten Jahren der Naziherrschaft war Thomas der Vertreter der Wehrmacht in allen Fragen der Wirtschaft und Rüstung. Sein Einfluss und seine Macht schwanden allerdings in dem Maße, wie die Verantwortung für die Rüstung auf das neu geschaffene Reichsministerium für Bewaffnung und Munition unter Fritz Todt überging. Nach dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz am 8. Februar 1942 war unter dem Amtsnachfolger Albert Speer schon bald klar, dass Thomas den Kampf um die Steuerung der Kriegswirtschaft verloren hatte. Mitte November 1942 trat er als Chef des Rüstungsamtes zurück.8
Am 11. Oktober 1944 verhaftete die Gestapo ihn. Seine Beteiligung an der Opposition, insbesondere um die Jahreswende 1939/40, war im Laufe der Untersuchungen nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 aufgedeckt worden. Die Gestapo brachte Thomas zunächst in ihr Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Str., bevor er am 2. Februar 1945 ins Konzentrationslager Flossenbürg eingewiesen und am 9. April 1945 weiter in das KZ Dachau gebracht wurde. Danach geriet Thomas in amerikanische Gefangenschaft, in der er am 29. Dezember 1946 verstarb.9 Birkenfeld gelang es, die Ausarbeitung von Thomas in wesentlichen Teilen mit den teils verschollenen Anhängen zu rekonstruieren und so die frühen Kriegsvorbereitungen der Reichswehr zu dokumentieren. Thomas hält als Ergebnis seiner Arbeit fest, „dass bis 1928 auf dem wehrwirtschaftlichen Gebiet in der Hauptsache nur theoretische Vorarbeiten geleistet werden konnten, die darauf hinausgingen, die deutsche Wirtschaft neu zu erfassen und sich ein Bild von ihrer Leistungsfähigkeit zu verschaffen“.10
Anja Bagel-Bohlan legt in ihrer 1975 publizierten Arbeit „Hitlers industrielle Kriegsvorbereitung 1936 bis 1939“ dar, dass die sich aus der Bewaffnung und Ausrüstung der Reichswehr ergebenden Industrieaufträge einen sehr geringen Stellenwert gehabt hätten und die „schwarz“ betriebenen Maßnahmen die Situation nicht wesentlich hätten ändern können. So habe die Reichswehr Entwicklungsarbeiten und Prototyp-Erprobungen auf dem Luftwaffen- und Marinegebiet gefördert und die Forschung auf dem Gebiet von ‚unerlaubten‘ Waffen, Geschützen und U-Booten vorangetrieben. Diese geheim betriebenen Arbeiten hätten nur zu „Schubladenergebnissen“ geführt, seien aber im Übrigen ohne nennenswerte fabrikatorische Auswirkung geblieben.11
Ernst Willi Hansen weist nach Auswertung von Unterlagen des Heereswaffenamtes in seiner 1978 veröffentlichten Studie zu „Reichswehr und Industrie“ erstmals nach, dass die Reichswehr bereits seit 1924 eine Anzahl privater, nicht für die Rüstungsfabrikation zugelassener Fabriken aus geheimen Mitteln mit Spezialmaschinen zur Herstellung von Kriegsmaterial ausstattete und finanzielle Mittel bereitstellte, von denen vor allem die wenigen von den Alliierten zugelassenen Monopolfirmen profitierten.12 Im gleichen Jahr erschien in einem von Müller/Opitz organisierten Sammelband eine thematisch gezielte Abhandlung Hansens zum „Militärisch-Industriellen-Komplex“ in der Weimarer Republik, in der er seine Ergebnisse nochmals in komprimierter Form darstellte.13 Im selben Werk erschien ein Beitrag von Michael Geyer zu der Thematik, im dem er darlegte, dass drei Elemente die vom Militär betriebene Restauration bestimmt hätten. So sei diese Entwicklung unter anderem geprägt gewesen durch die innenmilitärische Systematisierung und Zentralisierung, sowie die langfristige Planung der Rüstungspolitik mit dem Ziel des Aufbaus einer ‚Zukunftsarmee‘.14 Auf seinen bisherigen Erkenntnissen aufbauend publizierte Geyer 1980 eine Gesamtstudie über „die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik in den Jahren 1924 bis 1934“, ließ dabei aber die Problematik der Zusammenarbeit zwischen Militär und Industrie nahezu unberücksichtigt.15