Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945. Frank Baranowski
ließen. Aus ihren Betriebsarchiven steuerten die Firmen NOBAS (Nordhausen) und Meister (Dingelstedt) weitere Unterlagen bei. Material kam zusätzlich von privater Seite, so ein relativ umfangreicher Fundus zur MABAG und zum Schicksal ihres Betriebsdirektors Paul Radtke, der sich gegen die Verstaatlichung des Betriebes gewehrt hatte und im russischen Speziallager Nr. 2 in Buchenwald auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald bei Weimar starb.
Im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover (Nds. HStA) lagern die Bestände des Oberbergamtes Clausthal-Zellerfeld (Hann. 184). Sie geben Auskunft über die ersten Untertagelager, die das Militär aus Furcht vor der Entdeckung der illegalen Wiederaufrüstung und zur Tarnung ihrer verborgenen Munitionsbestände in stillgelegten Kaliwerken der Südharzregion einrichten ließ. Doch auch die Untertagebauvorhaben sind hier erfasst, die die Rüstungsunternehmen mit Unterstützung der SS Jahre später in der Region aufnahmen. Das Bild rundeten die Bestände der Kaliindustrie des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar sowie Unterlagen des Reichswirtschaftsministeriums (BAL, R3101) ab. Ergänzend wurden zur Unterverlagerung von Rüstungsproduktion Archivalien des Landesarchivs Merseburg (Leuna Werke GmbH, Grün & Bilfinger AG), des Landeshauptarchivs Dessau (Junkers-Werke), des Public Record Office (PRO), London, sowie des National Archives and Record Administration (NARA), Washington, ausgewertet. Ebenso wurden die alliierten Geheimberichte (BIOS- und CIOS-Berichte) gesichtet, zumal sie in Teilen als Kopie in der Universitätsbibliothek Bochum und dem Nds. HStA Hannover leicht zugänglich sind.6 Nähere Auskunft über die Entscheidungsträger und ihre zum Teil erheblich voneinander abweichenden Zielsetzungen geben die Unterlagen des Reichsluftfahrtministeriums (BA-MA, RL3), der Amtsgruppen und Abteilungen im Heereswaffenamt (BA-MA, RH8), der Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft (BAL, R125), der Industriebeteiligungsgesellschaft (BAL, R121) und des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion (BAL, R4603). Die Steuerungsmechanismen der Untertageverlagerung und die Struktur der Sonderstäbe, die zur Koordinierung der Untertageprojekte in letzter Minute zusammengestellt wurden, treten darin ans Licht. Zudem ließen sich in den für den Verfasser zugänglichen Betriebsarchiven der Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH, Bereich KSE (LMBV mbH), ehemals Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben mbH (GVV in Sondershausen), der IVG Immobilien AG (Bonn) und der Vereinigte Tanklager und Transportmittel GmbH (VTG in Hamburg) weitere Informationen sammeln.
Um den Häftlingseinsatz auf den Untertagebaustellen sowie den Industriebetrieben der Region zu erfassen und die damit verbundene Herausbildung eines nahezu flächendeckenden Lagerkosmos nachzuzeichnen, wurde von den Beständen des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar zum Konzentrationslager Buchenwald (NS4) ausgegangen. Im Bundesarchiv Berlin fand sich im herausgelösten Bestand NS4, die Sammlung „Sonstige zentrale Dienststellen und Einrichtungen der SS“ (NS48); er liefert umfangreiches statistisches Zahlenmaterial für diese Nachforschungen. Auch der Bestand „Persönlicher Stab Reichsführer-SS“ (NS19) konnte in Berlin konsultiert werden. Die Dokumentationszentren der KZ-Gedenkstätten Mittelbau-Dora, Buchenwald, Langenstein-Zwieberge, Ravensbrück, Auschwitz und Neuengamme übermittelten weitere wichtige Quellen, so Transportlisten und zahlreiche Kopien aus ausländischen Archiven. Auf gezielte Nachfrage konnten auch Unterlagen des Archivs Yad Vashem, Jerusalem ausgewertet werden. Abschließend bestand im September 2011 die Möglichkeit, die umfangreichen Bestände des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen (ITS) persönlich zu sichten. Bereits in den Jahren zuvor hatte der ITS dem Autor zu Forschungszwecken zahlreiche Kopien, vorwiegend Transport- und Bestandslisten, zukommen lassen.7
Als besonders hilfreich erwiesen sich die bisher in Deutschland unbeachteten Bestände des Archivs „Service des Victimes de la Guerre“ (AVSG) in Brüssel, die der Verfasser 2008 einsehen konnte. Das heute vom belgischen Gesundheitsministerium (Ministère de la Santé Publique) getragene Archiv bewahrt einen Fundus von Prüfungsunterlagen für Haftentschädigungen auf, die der belgische Staat ehemaligen belgischen Zwangsarbeitern und anderen Opfern der deutschen Besatzung gewährte. Die Prüfung und Auszahlung erfolgte durch eine zu diesem Zweck eingerichtete Behörde (AVSG), die die erforderlichen Beweismittel zumeist von Amts wegen beschaffte. Der Belgische Nationale Suchdienst hatte mit seinen 1946 begonnenen Recherchen den Grundstein der Dokumentation gelegt.
Ab 1948 veranlasste diese Entschädigungsstelle in der gesamten britischen Besatzungszone die ‚Suche nach zweifelhaften, mutmaßlichen Gefängnissen und Lagern‘ („Enquête sur les prisons et les camps douteux“). Mit Unterstützung der deutschen Kommunalverwaltungen wurde ein standardisierter Fragebogen an die Unternehmen verschickt, die Ausländer beschäftigt hatten.8 Diese Fragebögen sind für das gesamte Gebiet der ehemaligen britischen Besatzungszone erhalten geblieben. Sie umfassen 42 Ordner, aufgelistet nach Regierungsbezirken, Stadt- und Landkreisen. Und auch die umfangreiche Korrespondenz zwischen belgischen Suchoffizieren und den deutschen Ämtern ist archiviert, ebenso wie die kaum übersehbare Zahl von Berichten, die die Betroffenen ihren Anträgen beifügten. Zudem liegen in dem Archiv Kopien von Zugangs-, Abgangs-, Stamm- oder Totenbüchern aller großen Konzentrationslager, nach Haftstätten geordnet und in mehreren hundert Ordnern chronologisch archiviert.9 Darunter befinden sich – scheinbar komplett – die Unterlagen für die Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie ihrer Außenlager und -kommandos. In begrenzter Zeit in Brüssel oder später in Kopien ausgewertet sind sie in die vorliegende Arbeit eingegangen. Im selben Gebäude in Brüssel befindet sich das „Centre for historical research and documentation on war and contemporary society“ (ceges-soma), das u. a. das vom Service des Victimes de la Guerre zusammengetragene Bildmaterial verwertet.10
Über die konkreten Existenzbedingungen der Arbeitssklaven und Lagerinsassen sagen die bisher genannten Unterlagen meist wenig. Um denen auf die Spur zu kommen, durchforschte der Verfasser die in den Dokumentationszentren der KZ-Gedenkstätten gesammelten und für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren sowie die Gerichtsakten eingeholten Häftlingsberichte und Zeugenaussagen. Erste Anlaufstelle war die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (ZSL), inzwischen Außenstelle des Bundesarchivs (BA Ludwigsburg). Unterlagen aus dem Dachauer Dora-Prozess von 1947 konnten im Archiv des Dokumentationszentrums Mittelbau-Dora eingesehen werden.11 Auszüge der Akten des britischen Bergen-Belsen Prozesses von 1945 wurden vom „Zentralnachweis zur Geschichte von Widerstand und Verfolgung 1933 – 1945 auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen“ (ZNW) zur Verfügung gestellt. Das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas (Selters) überließ Häftlingsberichte zum Dora-Außenkommando Neusollstedt. Eine Vielzahl weiterer Häftlingsberichte und Dokumente kamen aus dem Ausland, so von der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ (Fundacji „Polsko-Niemieckie Pojednanie“) in Warschau, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien, dem Dokumentationszentrum Ex-Dwangarbeiders in Winterswijk (Niederlanden) und der Stiftung Memorial in Moskau.
Die systematische Erfassung von Rüstungsbetrieben durch die Reichswehr
Die Voraussetzungen einer ungleichartigen rüstungskonjunkturellen Entwicklung in beiden Gebieten schuf die Reichswehr bereits Anfang der 1920er Jahre, indem sie insgeheim und hinter dem Rücken der Reichsregierung, getarnt als „Organisations-Kriegsspiel“,1 Wiederaufrüstungspläne schmiedete, sie in den Folgejahren zielstrebig weiter betrieb und mit finanziellen Mitteln, teils aus „schwarzen Kassen“, Einfluss auf die Rüstungsforschung wie auch die materielle Rüstung nahm. Eines der Hauptziele der Alliierten nach Ende des Ersten Weltkrieges hatte darin bestanden, Deutschlands „potentiel de guerre“ zu vernichten. Dem Reich wurde im Versailler Vertrag auferlegt, die Produktion von Rüstungsgütern gen Null zu fahren. Soweit eine Herstellung von Waffen, Munition und Kriegsgerät in Deutschland in geringem Umfang noch möglich blieb, wurde sie auf wenige von den Alliierten zu genehmigende Fabriken begrenzt. Alle anderen Anlagen zur Anfertigung, Lagerung, Herrichtung oder Konstruktion