Die Magie der Sucht. Joachim Bräunig
aus, was den Anwalt zu einer Bemerkung veranlasste.
„Sie wollen doch nicht etwa auch bereits nach Hause gehen?“
„Ich habe mir den Feierabend ebenso verdient wie sie“, antwortete die Sekretärin.
„Davon bin ich überzeugt, aber ich wundere mich darüber, weil sie ansonsten immer die Letzte sind und erst nach uns die Kanzlei verlassen.“
„Wir bekommen am Wochenende Besuch und da gibt es für die Frauen stets viel zu tun.“
„Ja, das weiß ich von uns zu Hause. Meine Frau regelt diese Arbeiten auch immer allein.“
„Es ist vielleicht auch besser. Männer haben für diese Vorbereitungen kein Händchen.“
Diese Wortgefechte zwischen Kai Schulten und Rita Schmoll kamen nicht selten vor und es war unverkennbar, dass die Sekretärin für den Anwalt eine leichte Schwäche hatte. Der lockere Umgangston von Kai Schulten sowohl mit ihr als auch mit seinen Klienten gefiel ihr, obwohl sie bei der Erledigung der anstehenden Aufgaben ihn gegenüber Christoph Scholz nicht bevorteilte. Bea Lutz hatte ebenfalls ihren Schreibtisch aufgeräumt und verabschiedete sich von ihren Kollegen und dem Chef. Die Stimmung der Mitarbeiter der Kanzlei war bestens und alle freuten sich auf das bevorstehende Wochenende. Sie verließen gemeinsam die Geschäftsräume und traten hinaus in die strahlende Sonne, die zu dieser Nachmittagszeit voll in ihrem Zenit stand. Sie gingen zu ihren Fahrzeugen, die auf dem Parkplatz in der Nähe des Stadthafens standen. Nachdem sie sich alle nochmals förmlich verabschiedet hatten, stiegen sie in ihre Fahrzeuge.
Ulf Sorge fuhr mit seinem BMW in Richtung seiner Wohnung in Röbel, das ungefähr fünfzehn Kilometer von Waren entfernt gelegen ist. Er wollte noch verschiedene Kleinigkeiten für das Wochenende einzukaufen, entschied sich aber, erst zu Hause vorbeizufahren und zu kontrollieren, was er wirklich benötigte. Er überlegte, eventuell seinen Freund, den Immobilienmakler Detlef Schmidt, zum Abendbrot einzuladen, aber verwarf diesen Gedanken wieder. Detlef Schmidt war seit der Studienzeit mit Ulf Sorge befreundet und hatte sich nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als Immobilienmakler selbstständig gemacht. Die beiden Familien waren befreundet, wobei diese Freundschaft sich in engen Grenzen hielt, da die beiden Ehefrauen keinen direkten Draht zueinander fanden, was Ulf und Detlef sehr bedauerten. Detlef Schmidt wohnte seit dem plötzlichen Tod seiner Frau allein, da der Sohn bereits vor einigen Jahren an die Ostsee gezogen war und nur noch loser Kontakt bestand. Detlef Schmidt wohnte in Vipperow, was ungefähr zehn Kilometer von Röbel entfernt liegt. Sein Maklergeschäft lief sehr gut, aber er wollte niemals einen Partner einstellen, sondern seine Geschäfte allein durchführen. Die Ausübung seiner Tätigkeit bedingte, dass er mit vielen verschiedenen Menschen, auch unterschiedlicher Berufszweige, zusammenarbeiten musste, was oft zu Schwierigkeiten führte. Detlef Schmidt war ein sehr selbstbewusster und kritischer Mann, der keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Festlegungen zuließ. Dieser Charakterzug brachte ihm nicht nur Freunde, sondern im Gegenteil eine Reihe von Feinden und Widersacher ein. Er war jedoch als ein sehr gut und gerecht kalkulierender Makler bekannt, der die Käufer auch auf mögliche Folgekosten des Neuerwerbes eines Grundstückes aufmerksam machte. Diese sachlichen Einschätzungen hatten ihm, trotz seiner teilweisen spröden Umgangsformen, einen guten Ruf eingebracht.
Ulf Sorge entschloss sich jedoch den Feierabend allein zu genießen und es sich bei einer schönen Flasche Rotwein und klassischer Musik gemütlich machen. Er fuhr am Hafen von Röbel vorbei in Richtung ihres Grundstückes, welches sich an der Ringstraße befand, die eine Nebenstraße der Straße des Friedens war, die sich durch den Ort schlängelte. Für die Fernfahrer gab es eine Umgehungsstraße vorbei an Röbel. Röbel war eine wunderschöne Kleinstadt direkt an der Müritz gelegen. Das Grundstück der Familie Sorge befand sich am Ende der Straße mit einem großen Gartengelände, was Frau Sorge akribisch pflegte. Sie hatten damals beim Kauf bewusst das letzte Grundstück der Straße ausgewählt, damit sie möglichst ungestört und von Zaungästen unbeobachtet ihre Freizeit verbringen konnten. Ulf Sorge fuhr auf das Grundstück und öffnete mittels Fernbedienung die Garage. Er verschloss das Fahrzeug und ging zur Eingangstür ihres Hauses, wobei er mit großem Wohlwollen feststellte, dass die Nachbarn nicht zu Hause waren. Das Grundstück des Nachbarn lag zwar einige Meter von ihrem entfernt, aber die Frau des Nachbarn war arbeitslos und suchte stets nach Kontakt zu ihnen, was der Familie Sorge eigentlich ungelegen kam, wobei die Nachbarin nicht unfreundlich war und auch gern zu gelegentlichen Hilfeleistungen bereit war. Er betrat den Flur des Hauses und schaute zuerst in die Küche und im Kühlschrank nach möglichem Abendbrot nach. Er bereitete sich abends gern eine warme Mahlzeit zu, möglichst ohne viel Aufwand. Er entdeckte in Folie verpackte Schnitzel und Bratkartoffeln und entschloss sich, daraus seine Abendmahlzeit zuzubereiten. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es zu einem Abendbrot eigentlich noch zu früh war und entschloss sich daher, einen starken Kaffee zuzubereiten und etwas Kuchen zu essen. Kuchen war im Hause der Familie Sorge immer vorhanden, da beide große Kuchen- und Tortenfans waren. Nachdem der Kaffee fertig war, nahm sich Ulf Sorge ein Stück Kuchen und ging mit Kuchen und Kaffee in die Stube und setzte sich in den Sessel, der in passender Höhe zum Tisch gekauft worden war.
Er trank einen Schluck Kaffee, griff zum Kuchen und lehnte sich im Sessel zurück, als ihm blitzschnell und sehr plötzlich von hinten ein Stahlseil um den Hals gelegt und mit brutaler Gewalt zugezogen wurde. Ulf Sorge war auf Grund des überraschenden Angriffes nicht in der Lage, die Hand zwischen Stahlseil und seinen Hals zu bringen, sodass er nicht die geringste Chance hatte, sich gegen diesen brutalen Überfall zur Wehr zu setzen. Sein Kampf gegen seinen gewaltsamen Tod währte nur wenige Sekunden, denn der Täter zog die Schlinge um seinen Hals mit aller Gewalt zusammen. Nach wenigen Sekunden hatte er Ulf Sorge getötet und der Anwalt saß mit hängenden Armen in seinem Sessel. Der Täter schaute mit einem spöttischen Lächeln auf sein Opfer herab.
Der Täter war durch das Badezimmerfenster, welches Richtung Garten zeigte und damit den Blicken von Passanten oder Nachbarn verborgen blieb, eingestiegen. Er hatte bereits am Tag zuvor mittels eines Diamantschneiders ein Loch in Höhe des Fenstergriffes eingebracht, sodass er völlig unbemerkt nach dem Eintreffen von Ulf Sorge in das Haus einsteigen konnte. Er hatte einige Zeit gewartet und den Anwalt von außen beobachtet, denn er wollte vollkommen sicher sein, dass sein mörderischer Plan gelingt. Zugleich hatte er das Umfeld des Grundstückes beobachtet und war sicher, dass niemand in der Nähe war. Als sich Ulf Sorge seinen Kaffee zubereitete, sah er seine Chance zur Vollstreckung seiner abscheulichen Tat gekommen. Er beobachtete, wie sich der Anwalt in seinen Sessel setzte, stieg durch das geöffnete Badezimmerfenster ein und bewegte sich lautlos durch den Flur Richtung Wohnstube, um seine grässliche Tat zu vollbringen. Nachdem er Ulf Sorge getötet hatte, ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine aus, die der Anwalt zum weiteren Aufwärmen des Kaffees angelassen hatte. Er hatte für die Tat Gummihandschuhe benutzt und sich über die Schuhe Füßlinge gezogen, die er auch weiterhin anließ. Der Täter schaute sich in der Wohnstube und in anderen Räumen um und suchte anscheinend bestimmte Unterlagen, denn er durchwühlte den Schreibtisch und die Regale des Anwaltes, in denen unzählige Bücher und Unterlagen von verschiedensten Prozessen aufbewahrt waren. Er nahm verschiedene Unterlagen an sich und versteckte sie unter seinem Pullover. Nachdem er offensichtlich mit seiner Suche am Ende war, ging er nochmals in die Wohnstube zu seinem Opfer und beugte sich über ihn, wobei er eine verächtliche Miene zog. Er schaute sich nach möglichen Spuren, welche er hinterlassen haben könnte, um und war anscheinend zufrieden. Er hatte versucht, nach der Durchsuchung des Schreibtisches und der anderen Möbel alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Der Täter ging ins Badezimmer und verließ das Haus, nachdem er den kreisrunden Ausschnitt des Fensterglases wieder mit transparentem Klebeband am Glas befestigt hatte, sodass auf den ersten Blick der Einbruch nicht sichtbar war. Er schritt in Richtung Straße des Friedens und bemühte sich keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Täter hatte sich unauffällig wie ein Tourist, der seinen Sommerurlaub genoss, gekleidet, was bedeutete, dass er sehr leger gekleidet war. Zudem hatten die Touristen, die sich zum Großteil in Röbel aufhielten, damit zu tun, sich den Schweiß aus der Stirn zu wischen oder sich anderweitig Frischluft zu verschaffen.
Er bewegte sich an der direkt an der Hauptstraße gelegenen Kirche St. Nicolai vorbei Richtung Hafen und hatte großes Glück, im Restaurant „Müritzterrasse“ noch einen freien Tisch zu