Die Magie der Sucht. Joachim Bräunig
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Am folgenden Samstagnachmittag herrschte auf dem Polizeirevier in Waren/Müritz die übliche Gelassenheit und der Revierleiter führte die Auswertung der vergangenen Nacht durch. Entsprechend der ihm vorliegenden Protokolle von Störungen waren keine besonderen Auffälligkeiten auszuwerten. Es gab einige Ruhestörungen und zwei Schlägereien, zu denen seine Mitarbeiter gerufen worden waren. Das einzige nennenswerte Vorkommnis war ein offensichtlicher Familienstreit, der zu einer Messerstecherei geführt hatte. Die Beamten hatten den Streit beendet und den offensichtlich stark alkoholisierten Täter in Verwahrung genommen. Die Uhr zeigte kurz vor 12 Uhr an, als beim Revierleiter das Telefon klingelte und eine aufgeregte Stimme fragte: „Bin ich richtig bei der Polizei?“
„Ja, wie kann ich ihnen helfen?“
„Sie müssen sofort zu meinem Vater fahren“, erwiderte der Anrufer.
„Beruhigen sie sich. Wie ist ihr Name?“
„Ich heiße Martina Sorge und mein Vater ist Ulf Sorge.“
„Ist ihr Vater Ulf Sorge, der Anwalt?“, wollte der Revierleiter wissen.
„Ja.“
„Ihr Vater ist in der Gegend bekannt.“
„Das glaube ich, aber darum geht es nicht.“
„Was ist genau ihr Anliegen?“
„Meinem Vater muss etwas zugestoßen sein. Ich habe ihn seit gestern Abend bis heute mehrmals versucht telefonisch zu erreichen, aber er meldet sich nicht.“
„Vielleicht ist er verreist.“
„Mit Sicherheit nicht, dass hätte er mir mitgeteilt. Er verreist selten und wenn, dann gibt er mir zuvor Bescheid. Wir telefonieren oft und besonders am Wochenende. Ich bin mir sicher, dass ihm etwas zugestoßen ist.“
„Könnte ihr Vater krank sein?“
„Davon ist mir nichts bekannt, im Gegenteil, er war stolz auf seine Gesundheit.“
„War er mit dem Fahrzeug unterwegs, vielleicht hatte er einen Unfall?“
„Er trug stets einen Notfallpass bei sich. Bei einem Unfall hätte das Krankenhaus oder andere Personen mich sicherlich in formiert.“
„Wann haben sie mit ihren Vater das letzte Mal gesprochen?“
„Am Freitagabend, da war er bester Stimmung und freute sich auf das Wochenende.“
„Gut, Frau Sorge. Wir werden unsererseits die festgelegten Maßnahmen ergreifen und zugleich alle Reviere bezüglich ihres Vaters befragen.“
„Das reicht mir nicht, ich verlange, dass sie sofort zum Grundstück meines Vaters fahren.“
„Die einzuleitenden Maßnahmen überlassen sie bitte uns“, erwiderte der noch immer freundliche Revierleiter.
„Ich bin überzeugt, dass ihm etwas Schlimmes widerfahren ist. Vielleicht benötigt er dringend ärztliche Hilfe und sie unternehmen nichts. In dem Fall mach ich sie verantwortlich“, brüllte Martina Sorge ins Telefon.
„Bitte beruhigen sie sich. Ich werde die entsprechenden Schritte einleiten. Wie kann ich sie erreichen, für den Fall, dass wir ihre Hilfe benötigen?“
„Meine Telefonnummer haben sie. Ich werde mich nicht vom Telefon entfernen. Ich rufe aus Australien an und ersuche sie dringend, nach dem Befinden meines Vaters zu schauen.“
„Gut, sobald wir näheres wissen, melden wir uns bei Ihnen“, sprach der Revierleiter und beendete das Gespräch.
Nach dem Auflegen des Hörers entschloss sich der Beamte einen Streifenwagen nach Röbel zu dem Grundstück von Detlef Scholz zu schicken, wobei er diese Maßnahme nur aus Sicherheitsgründen und zur Beruhigung der Anruferin festlegte, ohne im Geringsten zu ahnen, was seine Kollegen erwartete. Die Streifenpolizisten trafen nach wenigen Minuten auf dem Grundstück von Ulf Sorge ein und läuteten an der Pforte. Nachdem niemand öffnete sagte einer der Polizisten: „Lass uns zum Haus gehen und an der Haustür läuten.“
„Einverstanden“, erwiderte der andere.
Sie gingen zur Haustür und läuteten erneut mit dem gleichen Ergebnis, dass sich niemand meldete.
„Lass uns das Grundstück besichtigen, vielleicht können wir von einem Fenster Einblick in die Wohnung erlangen“, schlug einer vor und beide begaben sich auf einen Rundgang um das Gebäude, mit dem Ergebnis, dass sie keinen Blick in die Wohnung des Anwaltes gewinnen konnten.
„Was nun?“
„Weiß auch nicht, schlage vor, wir rufen unseren Chef an.“
Sie riefen ihren Vorgesetzten an und schilderten die Lage vor Ort. Der Revierleiter überlegte und sagte: „Wir haben für das Haus keinen Durchsuchungsbeschluss.“
„Vielleicht ist Gefahr im Verzug“, antwortete ein Streifenpolizist.
„Ja, aber dann könnt ihr dennoch nicht einfach einbrechen. Ich schicke euch einen Schlüsseldienst und in der Zwischenzeit beantrage ich einen Durchsuchungsbeschluss“, legte der Chef fest.
Die Polizisten warteten auf dem Grundstück von Ulf Sorge auf den Schlüsseldienst und beiden kam die Lage merkwürdig vor. Das Auto von Ulf Sorge war nicht zu sehen, aber es konnte in der Garage stehen, die nicht einsehbar war.
„Es ist schon seltsam, dass vom Anwalt kein Lebenszeichen spürbar ist und er sich nicht bei seiner Tochter gemeldet hat. Ich schätze ihn und dafür ist er bekannt, als sehr gewissenhaft und gründlich ein, warum meldet er sich dann nicht bei seiner Tochter. Nach circa zwanzig Minuten traf der Mitarbeiter von Schlüsseldienst ein. „Euer Anliegen muss sehr dringend sein, wenn ich von meinem Boss von einem eiligen Auftrag abgezogen werde. Dann wollen wir das Haus mal öffnen“, sagte der Mann und hatte binnen Sekunden die Haustür geöffnet.
„Mein Boss wird euch die Rechnung schicken“, sagte er und verabschiedete sich.
Die Polizisten betraten den Flur des Hauses und riefen nach Herrn Sorge, woraufhin sie keine Antwort bekamen. Der Flur wirkte aufgeräumt und sauber. An der Flurgarderobe hingen Sommermäntel und leichte Jacken und die Schuhe standen ordnungsgemäß und sauber davor.
„Lass uns die Zimmer anschauen“, sagte einer der beiden und ging in die Wohnstube voraus. Sie betraten die Wohnstube, ohne das ihnen anfangs Besonderheiten auffielen. Sie gingen Richtung Fernseher, wobei sie an dem Sessel vorbeikamen und beiden vor Erschrecken fast der Atem stockte. Der Anwalt, Ulf Sorge, saß mit weit aufgerissenen Augen im Sessel und war offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben.
„Schau dir das an.“
„Ja, ich sehe, der Mann hat Würgemerkmale am Hals.“
„Es sieht nach einer brutalen Hinrichtung aus.“
„Der Mann ist schon weit erkaltet, demnach liegt das Verbrechen bereits einige Zeit zurück.“
„Ja, ich stimme dir zu.“
„Ich werde jetzt unseren Chef anrufen.“
„Schildere die Lage exakt“, antwortete der andere Polizist.
„Hör mal, wie lange arbeiten wir bereits zusammen und gehen auf Streife, da müsstest du wissen, dass ich meine Arbeit gründlich erledige“, entsetzte sich sein Kollege.
„Reg dich nicht auf, sollte ein Spaß sein.“
Der Polizist setzte seine Meldung an seinen Vorgesetzten ab, der über diese Nachricht entsetzt war.
„Ihr bleibt vor Ort. Ich leite alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Abteilung der Spurensicherung ein. Anschließend komme ich persönlich zum Tatort.“
„Wenn es der Tatort ist“, entgegnete der Polizist.
„Das werden wir alles aufklären. Bis dann und sichert das Grundstück großflächig