Herzensöffnung (3): Später. Hero Leander
antwortete: „Das würde ich gern, aber ich muss morgen nach Hause und ich wohne im Schwarzwald.“
„Oh je, das ist aber auch nicht um die Ecke. Da bist du ja den halben Tag unterwegs.“
„Na ja, es geht.“ Michael erinnerte sich, dass er nichts sagen durfte, was vielleicht Koschs Inkognito lüften könnte. Deshalb hielt er sich bewusst bedeckt. „Aber ich komme ja irgendwann mal wieder. Vielleicht schon im Sommer. Dann finde ich dich doch bestimmt wieder hier in der Disko.“
„Ganz sicher findest du mich hier. Aber jetzt müssen wir noch einen trinken. Heute hast du mich beschützt“, sagte Harald.
„Bitte nicht mehr. Mir reicht es für heute. Vielleicht beim nächsten Mal.“
Als sie wieder den Saal betraten, wurde Michael regelrecht umringt. Jeder wollte ihm sagen, wie gut er reagiert und dass dieser Säufer nichts anderes verdient habe. Zum Glück war die Disko bald zu Ende. So konnte Michael sich von seinen Bewunderern befreien.
Auf dem Weg nach Hause waren Eva und Laura ganz stolz auf ihren Beschützer. „Heute hast du dir viele Freunde geschaffen“, sagte Laura. „Mir waren das schon bald zu viele“, antwortete er abwehrend. Da meinte Eva: „Lass mal. Du warst richtig gut. Wie du diesen Mann von den Ordnungskräften verteidigt hast, war ganz toll. Ich bin stolz auf dich. Schade, dass du nicht vier, fünf Jahre älter bist.“
„Wie meinst du das?“, fragte Michael misstrauisch.
„Ach, komm! Das war doch nur Spaß.“
Da fügte Laura lachend hinzu: „Beim Kämpfen bist du einsame Spitze, aber mit Mädchen kennst du dich nicht aus!“
Die beiden Schwestern lachten, nahmen ihn in die Mitte und hakten sich links und rechts ein. So kamen sie zehn Minuten später zu Hause an.
Am folgenden Sonntag brachte Wolfram seine beiden jungen Gäste zu ihrer Mutter in den Schwarzwald. Sie guckte immer etwas misstrauisch, wenn Wolfram mit den beiden ankam. Aber sie konnte sich noch sehr gut an den Rechtsanwalt erinnern, der diese Besuchsregelung mit ihr ausgehandelt hatte. Mit diesem Anwalt wollte sie nie wieder zu tun haben.
Der Januar verging recht schnell. Schnee gab es schon seit einigen Jahren kaum noch. Und wenn es mal schneite, dann lag er nur ein paar Tage oder nur Stunden. Die Winter, von denen Wolfram manchmal erzählte, gab es schon lange nicht mehr. Vielleicht lag das doch an den Flugzeugen, die fast täglich irgendwelche Sachen hoch oben versprühten, um angeblich die Klimaerwärmung aufzuhalten.
So kamen der Februar und die Schneeglöckchen. Immer wenn sich die ersten Schneeglöckchen zeigten, musste Maria an das Hotel ihrer Heimat in Norwegen denken. Es hieß Snowdrop, was zu Deutsch Schneeglöckchen heißt. Mit dem Februar kam für Maria und Wolfram aber auch der elfte Jahrestag ihrer ersten Begegnung. Sie feierten diesen Tag nicht nur deshalb, sondern auch, weil ohne Wolframs damaliges Eingreifen Maria an diesem Tag ertrunken wäre. So feierten sie an diesem Tag auch Marias zweites Leben.
Durch die Gespräche an Mammas Geburtstag im Januar waren viele Erlebnisse ins Gedächtnis zurückgekehrt, die schon fast vergessen waren. Besonders die Umstände, durch die Maria an diesem Tag vor elf Jahren so verzweifelt gewesen war. Und wieder waren Wolfram und Maria davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass sich gerade in diesem Moment ihre Wege kreuzten, als sie ins kalte Wasser fiel. So saßen sie zu zweit auf der Couch und lebten in den Erinnerungen an diesen Tag. Die Kinder waren in der Schule und ihre Eltern hatten den Tag ganz für sich.
Da kam Wolfram eine verrückte Idee: „Wollen wir diesen Tag ähnlich begehen wie damals oder noch besser wie Andrea an ihrem 25. Geburtstag?“ Maria verstand noch nicht, was er damit meinte. Da sagte Wolfram lächelnd: „Du musst jetzt erst einmal in die Wanne. Ich komme dann zwar ohne Makkaroni, aber mit einer Flasche Wein und etwas Saft für mich nach.“
„Sind wir dafür nicht etwas zu alt?“, fragte Maria lachend. Wolfram schüttelte schmunzelnd den Kopf und ein langes „Neiiin!“ kam aus seinem Mund. Dann trug er seine Maria nach oben und legte sie im Schlafzimmer ab, daraufhin ging er ins Bad, um die Wanne volllaufen zu lassen. Während dies geschah, holte er eine Flasche Wein, Saft für sich, zwei Gläser und stellte alles auf die Ablage an der Wanne. Anschließend holte er den Leuchter, der die kleine Brücke über den Millstream darstellte, vom Frühstückstisch, stellte ihn ebenfalls auf die Wannenablage und zündete die Kerzen an. Nun ging er ins Schlafzimmer, trug Maria ins Bad und setzte sie vorsichtig in die Wanne; fast so wie vor elf Jahren. Danach stieg er selbst ins Wasser.
„Nun fehlt nur noch jemand, der uns fotografiert“, sagte Wolfram schmunzelnd.
„Wenn wir hier lange genug sitzen, können das unsere Kinder besorgen. Die kommen nämlich in zwei Stunden aus der Schule“, erwiderte sie lachend.
Das warme Wasser und der Wein holten bei Maria die schönen Erinnerungen dieses Tages und der folgenden zwei Wochen im Februar 2000 ins Gedächtnis zurück. Auch Wolfram fiel in diese Zeit zurück. So erinnerten sie sich gegenseitig an die vielen kleinen Einzelheiten, die diese Zeit so wunderschön gemacht hatten.
Doch dann wurde Maria plötzlich ernst und eine Traurigkeit machte sich in ihrem Gesicht breit. „Was hast du?“, fragte Wolfram besorgt.
„Mir ist gerade eingefallen, wie es überhaupt zu allem kam. Ich habe nie darüber gesprochen“, antwortete Maria mit feuchten Augen.
Er versuchte sie zu trösten, indem er sagte: „Du musst nicht darüber reden, wenn es dich traurig macht.“
„Doch! Heute will ich es“, widersprach sie ihm und fing an zu erzählen: „Es begann am Sonntag vorher. An dem Tag, an dem damals dein Urlaub in Håp Land begann. Mein Pappa hat mir abends, als die Kinder im Bett waren, wieder einmal erklärt, wie einfach alles gewesen wäre, wenn ich mich bei den Männern zurückgehalten und keine Kinder hätte. Nun müsse er, weil ich so selbstsüchtig gewesen wäre, zusätzlich meine Kinder mit ernähren. Hätte ich sie nicht, dann würde ich auch einen Mann finden, der mich heiraten würde. Aber so … Und dabei winkte er ab. Das tat mir so weh. Ich kam mir so unnütz vor, dass ich allen nur eine Last war. Die folgende Nacht konnte ich kaum schlafen. Ich habe mein ganzes Kopfkissen nass geweint. Auch am folgenden Tag ließ mich dieser Vorwurf nicht los. Vormittags, als ich mal allein im Wohnzimmer war und im Radio nach einem vernünftigen Sender suchte, hatte ich plötzlich einen deutschen Sender drin und dieser spielte dieses wunderschöne Lied, von welchem ich dir erzählt habe. Es hieß Wunder gibt es immer wieder. Bei diesem Text habe ich vor dem Lautsprecher gesessen und bitterlich geweint, denn für mich gab es kein Wunder. Ich wollte so nicht weiterleben und beschloss, aus dem Leben zu gehen.
Als ich nach dem Mittagessen meine Kinder zum letzten Mal ins Bett brachte, verabschiedete ich mich in Gedanken von ihnen. Sie taten mir so leid, aber mit mir hatten sie auch keine Zukunft. Vielleicht, so dachte ich, haben sie eine bessere Chance ohne mich. Und dann wollte ich nur noch allein sein. So ging ich anschließend zum Fjord und setzte mich am Millstream so in die Böschung, dass man mich auch vom Hotel nicht sehen konnte. Hier wollte ich mein sinnloses Leben in der Kälte beenden. Ich erinnere mich noch, wie Arme und Beine langsam immer schwerer wurden. Es fühlte sich an, als gehörten sie gar nicht mehr zu mir. Dann kann ich mich auch noch dunkel daran erinnern, dass ich in kaltem Wasser war. Ganz weit in der Ferne sah ich dann ein wunderschönes weißes Licht. Dort wollte ich hin, aber zwei fremde Hände hielten mich fest und ließen mich nicht in dieses Licht.
Plötzlich wurde es warm und langsam begriff ich, dass ich immer noch in dieser Welt war. Ich lag mit Sachen in einer Wanne und ein fremder Mann stand daneben. Das warst du. Nun verstand ich erst mal gar nichts mehr. Als ich merkte, dass du ein Deutscher warst, vermutete ich, dass ich im Hotel war. Sofort kam meine Angst wieder hoch, denn ich hatte ja Hausverbot im Hotel. Auf der anderen Seite war es wie Balsam für meine Seele, dass sich ein fremder Mann so uneigennützig um mich kümmerte. Ich war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite wollte ich nie wieder etwas mit einem Touristen zu tun haben; und mit einem deutschen schon gar nicht. Auf der anderen Seite fühlte ich mich irgendwie zu dir hingezogen. Mein Gefühl sagte mir, dass du ein guter Mensch bist. Dann hast du dich so fürsorglich um mich gekümmert, dass