Stills Faszienkonzepte. Jane Stark

Stills Faszienkonzepte - Jane Stark


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für ein Verstehen und Entdecken von Stills Faszienkonzepten herangezogenen Werke anderer Osteopathen zeigten, dass fast niemand Northups Empfehlung gefolgt ist, den Inhalt von Stills Philosophy of Osteopathy absatz- und satzweise zu studieren.16 Ebenso bedauerlich ist es, dass außer von O’Connell (1998) in den letzten 25 Jahren so gut wie nichts über Stills Faszienkonzepte veröffentlicht wurde.

      In der vorliegenden Arbeit wird auch davon ausgegangen, dass Osteopathen, die vor den späten 1980ern oder den frühen 1990er Still lesen oder über ihn schreiben wollten, in ihren Möglichkeiten ziemlich eingeschränkt waren, weil man damals an ein Buch von ihm und an die meisten seiner Zeitschriftenartikel nur sehr schwierig herankam. Zudem sind wahrscheinlich eine Reihe seiner unveröffentlichten Texte schlicht verloren gegangen oder wegen ihres anstößigen Inhalts vernichtet worden.

      Was hat sich nun getan in der Osteopathie seit Northups Empfehlungen, die mehr als 50 Jahren zurückliegen? Die osteopathische Profession hat sich über zwei Generationen entwickelt und von jenen entfernt, die Andrew Taylor Still gekannt und bei ihm studiert haben. Es gibt niemanden mehr, der irgendeine direkte Erfahrung mit ihm, seinen Lehren oder seinen Ideen gemacht hat. Seine Kinder, von denen fünf Osteopathen waren, leben nicht mehr. Seine Enkel, darunter neun Osteopathen, sind ebenfalls alle verstorben.

      Obwohl über die verschiedenen Disziplinen der Osteopathie, wie osteoartikuläre Anpassung, viszerale Osteopathie, kraniale Osteopathie, muskuläre Energie und Counterstrain, eine Menge Lehrbücher geschrieben worden sind, verblieb das Gebiet Faszien relativ spärlich dokumentiert und schlecht definiert. Trotz des Mangels an maßgeblichen Referenzwerken, die eine klare Interpretation von Stills Faszienkonzepten bieten, existiert aber eine überquellende Terminologie, die fasziale Zustände beschreibt. Zu den heute üblichen, umschreibenden Ausdrücken für fasziale Probleme gehören Einschränkung, Spannung, Zug, Läsion, Verklebung, Stoß, ease and bind, gewöhnliches Kompensationsmuster, ungewöhnliches Kompensationsmuster und nicht kompensiertes fasziales Muster. Noch verwirrender wird diese Terminologie durch die Austauschbarkeit bzw. die fehlende Unterscheidung myofaszialer und faszialer Anwendungen. In den letzten 15 Jahren wurden von anderen Osteopathen neue Einschätzungs- und Behandlungstechniken für Faszien eingeführt wie das Fascial Distortion Model von Stephen Typaldos D.O. (1994) und das Bioelectric Fascial Activation Model von Judith O’Connell D.O. (1998).

      In der vorliegenden Studie wird die Meinung vertreten, dass es erforderlich ist, Stills Originalanschauungen zum Thema Faszien neu, und zwar im Kontext seines Lebens, seiner Zeit und der ihn beeinflussenden Faktoren, zu betrachten, um die Faszien so, wie er sie ursprünglich definiert hat, besser zu verstehen. Diese Meinung teilen auch andere Osteopathen, z. B. Jocelyn C. P. Proby: „Ich glaube kaum, dass wir Dr. Stills Ideen begreifen können, wenn wir sie nicht vor dem historischen Hintergrund sehen.“17 oder Stills erster Biograf E. R. Booth: „Vieles, was Dr. Still zu dem machte, was er war und noch ist, lässt sich auf seine Lebensumstände zurückführen.“18 Entscheidend ist aber, dass Stills Anschauungen eben nicht nur von diesen Lebensumständen, sondern auch von seinem Wesen geprägt wurden. Carl McConnell, zu Stills Lebzeiten Professor an dessen American College of Osteopathy, schrieb:

       „Um Dr. Stills Werk angemessen würdigen zu können, müssen wir seine spirituelle und mentale Disposition mitbedenken. Seine Wahrheitsliebe, eine tiefe spirituelle Einsicht in die Werke der Natur, deren physische Form nur eine äußerliche Offenbarung ist, und Mut: Das sind, wie wir es sehen, seine wichtigsten spirituellen und mentalen Eigenschaften.“ 19

      In einigen Fällen genügte nicht einmal das von Northup empfohlene absatz- und satzweise Durchgehen von Stills Werk. So führte z. B. erst das genaue Beachten der differenzierten Verwendung des bestimmten und des unbestimmten Artikels in Stills Schreibstil zu einer deutlich veränderten Interpretation eines seiner Faszienkonzepte. Und erst die Feststellung, dass er „wif “ statt „wife“ schrieb, war ein entscheidender Hinweis auf eine wichtige Beeinflussung Stills, nämlich den Spiritismus.

      Um Stills Faszienkonzepte in die moderne osteopathische Praxis einzubinden, wird in der vorliegenden Forschungsarbeit den folgenden drei Fragen nachgegangen:

      – Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepten und wie sehen sie aus?

      – Wie werden diese Konzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis angewendet?

      – Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet das für die Osteopathie?

      Um dies zu beantworten, wurden literatur- und interviewgestützte Untersuchungen durchgeführt. Ziel der literaturgestützten Forschung war es, herauszufinden, wie Still seine Faszienkonzepte entwickelt hat und worin sie bestanden. Im Rahmen der interviewgestützten Forschung veranlasste eine Reihe offen gestellter Fragen eine Gruppe erfahrener, manipulativ arbeitender osteopathischer Ärzte und Osteopathen, ihre Vertrautheit mit Still und dessen Werk, ihre eigenen Faszienkonzepte sowie ihre Auffassungen von Stills Faszienkonzepten darzulegen. Beide Forschungsansätze wurden kombiniert, um ein besseres Verständnis von Stills Faszienkonzepten zu erreichen und zu erfahren, wie diese Konzepte in der modernen Osteopathie verstanden und angewendet werden.

      Die Studie umfasst fünf Kapitel. Kapitel 1, Methodologie, skizziert die Schritte zur Entwicklung des in der vorliegenden Arbeit angewandten qualitativen Forschungsansatzes und beschreibt die speziellen Verfahren zur Behandlung der Forschungsfragen. Kapitel 2, Still verstehen, enthält eine kurze Biografie, deren Schwerpunkte auf Stills Lektüre, seinem Schreibstil und beeinflussenden Faktoren liegen, und stellt Vermutungen über Stills medizinische, philosophische und religiöse Überzeugungen an. In Kapitel 3, Über die Faszien, wird versucht, herauszufinden, was Still unter dem Begriff Faszien verstand, wie seine Faszienkonzepte aussahen und was sie bedeuteten. Darüber hinaus stellt dieses Kapitel Stills Ansätze beim Einschätzen und Behandeln von Faszien und Membranen vor, verfolgt die Geschichte des Begriffs Faszien und untersucht die Rolle der Faszien in anderen zu Stills Zeit bekannten mechanotherapeutischen Methoden. Es beleuchtet Stills Umgang mit den Faszien vor dem Hintergrund seiner medizinischen Ausbildung und seines Pionierlebens und führt die Gewebetypen auf, die Still in den Begriff Faszien einschloss. Schließlich wird eine repräsentative Auswahl seiner Äußerungen zum Thema Faszien interpretiert. Die Kapitel 2 und 3 befassen sich also mit der ersten Forschungsfrage: Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepte und wie sahen sie aus?

      Mit der zweiten Frage – Wie werden Stills Faszienkonzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis umgesetzt? – beschäftigt sich Kapitel 4, Interviews mit erfahrenen Osteopathen, das die Antworten von 37 erfahrenen Osteopathen und osteopathischen Ärzten auf 20 Fragen vorstellt, die schwerpunktmäßig auf das Faszienverständnis der Befragten abzielten sowie auf deren Meinung zu dem verborgenen Sinn in Stills Äußerungen über die Faszien.

      Kapitel 5, Stills Faszienkonzepte und die moderne osteopathische Praxis, vergleicht schließlich die im Rahmen des literaturgestützten Forschungsansatzes erarbeitete Interpretation von Stills Faszienkonzepten mit den bei der interviewgestützten Untersuchung eingeholten Antworten und dreht sich somit um die dritte und letzte Forschungsfrage: Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet dies für die Osteopathie? Die dazu interviewten Osteopathen besaßen praktische Erfahrung in Manipulativ-Techniken und hatten Gelegenheit, diese Techniken sowie die osteopathische Philosophie von Kollegen zu erlernen, die nur eine oder zwei Generationen von A. T. Still entfernt gewesen waren. Das Kapitel macht deutlich, wo Stills Faszienkonzepte (so wie die


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