Mörderisches Spiel in Leipzig. Uwe Schimunek
überquerte Gelsenrath die nächste Brücke nach dem Versorgungshaus, das am linken Rand der Chaussee lag. Dieses Stück der Strecke fuhr er trotz der hier herrschenden Gerüche – im Sommer sorgte das Vieh für eine besondere Note – sehr gern. In aller Regel wirbelten hier keine Fuhrwerke Staub auf, und er konnte ungestört in die Pedale treten.
Vor ihm tauchten die ersten Häuser der Stadt auf. Bis vor ein paar Jahren war auch diese Gegend noch dörflich geprägt gewesen. Nun leuchteten die neuen, prächtigen Bürgerhäuser in der Märzsonne, als wären sie mit Edelsteinen besetzt. Vor dieser Häuserfront bog Gelsenrath in die Straße An der Alten Elster ein. Nun blieben nur noch ein paar Meter. Er guckte nach rechts und sah die Straßenschilder: Gustav-Adolph-Straße, Auenstraße und Fregestraße.
Gelsenrath war schon einmal in Schöpfs Wohnung gewesen, als der ihm in einer Nachhilfestunde ein paar Tricks der Defensive beim Fußballsport erklärt hatte. Theoretisch blieben da kaum Fragen: Stets am Gegenspieler kleben bleiben, und nebenbei den Ball im Blick behalten! Wenn solche Kerle wie der Risio und die Friedrich-Brüder nur nicht so schnell wären …
Gelsenrath trat durch die Haustür. Im Treppenhaus roch es nach dem abklingenden Winter, die feuchte Kälte schien noch im Putz des Mauerwerks zu stecken. Die Tür im ersten Stock führte zu der Gemeinschaftswohnung, in der Schöpf zwei Zimmer bewohnte.
Auf das Schellen hin öffnete allerdings eine alte Frau, dem Namensschild an der Tür nach handelte es sich um Frau Sauertopf. Ihr Gesicht passt zum Namen, ging es Gelsenrath durch den Kopf. Es war grau wie ein Regentag. Das Mütterchen hatte bestimmt seit dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 nicht mehr gelächelt, vielleicht sogar nicht mehr seit der Revolution 1848.
»Sie wollen sicher zum jungen Herrn Schöpf«, brummelte die Alte. »Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen, er wird sicher wieder seine Zeit mit dieser Fußlümmelei vergeuden.« Frau Sauertopf betrachtete Gelsenrath. Er spürte ihren Blick auf dem weißen Trikot, das unter seiner Jacke hervorlugte.
»Nein, bei der Fußballübungsstunde ist er nicht eingetroffen. Genau deshalb bin ich hier.«
»Na, dann treten Sie durch und schauen nach dem jungen Herrn!« Die Alte gab den Weg frei und wies auf die Tür an der Stirnseite des Korridors, wo Schöpfs Zimmer lagen.
»Danke sehr, meine Dame!«, entgegnete Gelsenrath und schlenderte durch den Korridor. Mit halbem Ohr hörte er die Alte hinter sich so etwas murmeln wie, eine Dame werde sie sonst nie genannt.
Gelsenrath klopfte an die Tür. Doch in Schöpfs kleinem Reich regte sich nichts. Gelsenrath drehte sich herum, die alte Frau war in einem Zimmer verschwunden – dem Geruch nach in der Küche. Also öffnete er vorsichtig die Tür zu Schöpfs Zimmern.
In der Stube herrschte penible Ordnung. Der Schreibtisch sah aus, als sei er noch nie benutzt worden. Die Platte war beinahe völlig leer, und auch das Tintenfässchen mit der altmodischen Feder machte eher den Eindruck eines Ziergegenstands denn eines Schreibgeräts. Außerdem stand ein Kelch auf dem Tisch. Vielleicht trank Schöpf gelegentlich Limonade aus dem Gefäß. Jetzt aber war es leer.
In einem Regal über dem Schreibtisch blinkten ein gutes Dutzend blitzeblank geputzte Trophäen, die genauso wie die Medaillen an der Wand von Schöpfs sportlichen Erfolgen zeugten. Neben der Tür zur Schlafkammer hingen Zeichnungen. Gelsenrath erkannte den Strich. Es handelte sich eindeutig um Übungen von Rosalinde Fritzschmann. Er hatte Schöpfs Verlobte bei mehreren Vereinsfestivitäten getroffen und stets ein wenig Mitleid mit der hübschen Brünetten empfunden. Schöpf kümmerte sich bei den gesellschaftlichen Anlässen viel zu wenig um das Fräulein. Wenn Gelsenrath so eine junge Dame ausführen würde …
Er dachte lieber nicht mehr an die Verlobte seines Mannschaftsführers und betrachtete die größte der Zeichnungen genauer: Eine Aphrodite stieg aus dem Meeresschaum und hielt eine Lanze in der Hand. Wenngleich die Züge der Göttin voller Anmut waren, strahlte das Bild doch etwas Bedrohliches aus.
Genug der Kunst. Wo konnte Schöpf stecken? Wenn er auf den Sportplatz gefahren wäre, hätte er Gelsenrath entgegenkommen müssen. Im Büro war er sicher auch nicht mehr, es ging schließlich schon auf halb sechs Uhr zu. Vielleicht hatte der Mannschaftsführer nach der Arbeit ein wenig geruht und war dabei eingeschlafen. Gelsenrath überlegte, ob er in der Schlafkammer nachsehen sollte. Damit würde er tief in Schöpfs privates Reich eindringen. Andererseits kam die Meisterschaft in ihre entscheidende Phase, und der Verein brauchte den Spielführer. Das war eine besondere Situation, die besondere Taten erforderte.
Entschlossen öffnete Gelsenrath die Tür zur Schlafkammer und trat auf die Schwelle. Tatsächlich, da lag Schöpf auf dem Bett, in seiner Sportlerkluft, mit dem Gesicht zum Fenster am anderen Ende des Zimmers. Der Mannschaftsführer ruhte mit angezogenen Beinen wie ein Kleinkind. Nein, mit der weißen VfB-Tracht wirkte er eher wie ein zu groß geratener Engel. Eigentlich war es ein Frevel, den Mann zu wecken. Dennoch trat Gelsenrath an das Bett und legte den Arm auf Schöpfs Schulter. Der Körper gab der leichten Berührung nicht nach. Also ruckelte Gelsenrath etwas stärker an der Schulter des Mannschaftsführers, und der Körper rollte in die Rückenstellung.
Nun erst sah Gelsenrath Schöpfs Gesicht. Die Wange, mit der Schöpf bis eben auf dem Bett gelegen hatte, war mit dunklen Flecken übersät. Der offene Mund und die aufgerissenen Augen bildeten eine Fratze. In dem starren Blick war pure Angst zu lesen. Es sah so aus, als hätte Schöpf mit einem Dämon gekämpft. Und verloren.
Gelsenrath schrie.
Eins
Freitag, 22. Mai 1903, vormittags
In Leipzig toben die Irren, dachte Edgar Wank, als er sein Manuskript mit den Notizen abglich. Sein morgendlicher Besuch bei der Polizei war sehr erfolgreich verlaufen. Hauptwachtmeister Machuntze hatte mit spannenden Geschichten geradezu um sich geworfen. Mit den Informationen könnte Wank auch noch die morgige Ausgabe füllen. Er legte das Notizbuch auf den Schreibtisch und widmete sich noch einmal dem Text für die heutige Zeitung. Gleich musste er ihn bei Doktor Richter abgeben.
Am Mittwoch abend ½ 10 Uhr sind im Hause Zentralstraße 1 zwei Barbiere im Treppenhause in Balgerei geraten und beide etwa 8 m tief durch den Treppenschacht in den Hausflur hinabgestürzt. Hierbei ist einer infolge Schädelbruchs sofort verstorben, während der andere nicht unerhebliche Verletzungen am Kopfe und Rücken erlitt und dem Krankenhaus zugeführt werden musste.
Natürlich war es immer bitter, wenn es Tote zu beklagen gab. Doch durch solche Berichte wurde Polizeiliches aus Leipzig zu einer vielgelesenen Rubrik, auf die niemand verzichten wollte. Das Blatt erschien jeden Nachmittag mit einem Amtlichen Teil für die Stadt und den Artikeln im Nichtamtlichen Teil. Die Herausgeber bei der Königlichen Expedition der Leipziger Zeitung hielten täglich den Platz für Wanks Berichte frei. Es gab sicherlich Ehrenvolleres, aber die Toten sicherten Wanks Arbeitsstelle.
Freilich gab es nicht jeden Tag Todesfälle zu verzeichnen. Die restlichen Delikte, die Machuntze ihm gemeldet hatte, waren weniger spektakulär: Unterschlagung, Diebstahl, Zechbetrug, mal ein Einbruch. Die meisten Ganoven in der Stadt beließen es bei kleineren Vergehen. Der Erpresser, den die Polizeibehörden gestern gefasst hatten, war eigens aus Berlin angereist.
Machuntze tat stets, als retteten die Polizisten die Stadt vor dem Untergang, gerade heute hatte er Reden geführt wie ein Schauspieler beim Monolog. Aber im Grunde war nicht viel los in Leipzigs Ganovenwelt, zumindest nichts, was die Leser über längere Zeit in Atem hielt. Freilich konnte Wank schlecht selbst zum Mörder werden, nur um einen guten Artikel verfassen zu können.
Wank stand auf und machte sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten. Er schritt den Flur entlang, vorbei an den anderen Redaktionsstuben. Immer wieder erstaunte ihn, wie die Themen auf die Kollegen an den Schreibtischen abfärbten. Die Politikredakteure gaben sich geschäftig, als hinge von ihnen der Lauf der Geschichte ab und nicht von den Ministern und Geheimräten, über die sie berichteten. Die Wirtschaftsredakteure wirbelten stets umher, als würden sie selbst unablässig Aktien kaufen und verkaufen – dabei hatte kaum einer von ihnen genügend Geld für Börsenspekulationen. Da kam ihm die Ruhe in den Kulturbüros schon beinahe