Mörderisches Spiel in Leipzig. Uwe Schimunek

Mörderisches Spiel in Leipzig - Uwe Schimunek


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rief Rübele begeistert.

      Als der Blondschopf mindestens zehn, zwölf Meter entfernt war, legte er den Ball mit der Hand zurecht. Rübele nahm Anlauf und trat mit dem Spann gegen den Ball. Die Kugel flog unerwartet schnell. Das Leder setzte kurz vor Kutscher auf und sprang ihm dann mit voller Wucht gegen den Oberschenkel.

      »Au, verdammt!« Kutscher griff an sein Bein. Es schmerzte wie nach einem Peitschenhieb.

      Rübele eilte herbei und rief: »Bischt du verletzt?«

      »Nein«, stöhnte Kutscher. Während der Schmerz nachließ, hörte er einige der Studenten kichern. »Es wird schon gehen.«

      Rübele hob die Hand, und die anderen verstummten und trotteten herbei. Der Blondschopf ließ einen Moment der Ruhe verstreichen und erklärte dann mit der Stimme eines Festredners: »Gentlemen, lascht unsch den englischen Sport beginnen. Wir werden einen fairen Wettkampf auschtragen und Mitspielern wie den Gegenspielern högschten Reschpekt entgegenbringe.« In weniger offiziellem Ton teilte Rübele die Mannschaften ein. Zu Kutscher sagte er: »Du gescht am beschten erscht mal ins Tor. Schau dir an, wie die anderen spielen. Und lasch dir von Johnny die Handschuh geben.«

      Noch vor wenigen Minuten hätte Kutscher sich nicht vorstellen können, dass er je Handschuhe zu kurzen Hosen tragen würde, noch dazu gerade von einem Fremden getragene. Doch der rote Fleck auf seinem Oberschenkel, dessen Farbe bestimmt bald ins tiefste Blau wechseln würde, ließ jeden Widerspruch ersterben. Hauptsache, er blieb unverletzt, damit er die Kameraden später nach dem toten Fußballer befragten konnte.

      »Ist Ihre Tochter zu sprechen, Frau Fritzschmann?« Willibald Gelsenrath verbeugte sich und nahm dabei die Melone mit Schwung vom Kopf.

      Rosalindes Mutter füllte in ihrem hochgeschlossenen Kleid den Rahmen der Wohnungstür beinahe aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete: »Ich werde sehen, ob die junge Dame in der Verfassung ist, Herrenbesuch zu empfangen.«

      »Lassen Sie den Herrn doch bitte herein, Frau Mama!«, bat Fräulein Rosalinde aus dem Korridor. »Ich werde ihm in der Essküche eine Limonade bereiten.«

      Die Mutter stapfte beiseite, gab den Eingang frei und wies, ohne ein Wort zu sagen, auf den Kleiderständer. Das mannshohe Biedermeier-Möbelstück war überladen mit Verzierungen. Lediglich an einem Haken hing ein Gehrock. Darüber ragten geschwungene Stäbe aus der Konstruktion. Gelsenrath stülpte die Melone über das Holz.

      Frau Fritzschmann trottete in die gute Stube, sodass Gelsenrath mit Fräulein Rosalinde allein im Korridor stand. Die junge Dame trug auch noch zwei Monate nach dem Tod ihres Verlobten Schwarz. Ihr Kleid war derart schlicht, dass ihr Gesicht wie ein Schmuckstück wirkte. Sie hatte ihr aschblondes Haar am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden. Nachdem ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, seufzte das Fräulein und schritt in die Essküche.

      Um den runden Tisch standen sechs Stühle. Gelsenrath wusste, dass Rosalinde ältere Brüder hatte, die bereits in eigenen Haushalten wohnten. Auf ihr Zeichen setzte er sich und beobachtete die junge Dame, wie sie Zitronen und weiteres Obst aus einer Schale nahm und sich der Limonade widmete. In den letzten Wochen hatte sie ihre Haltung wiedergefunden, keine Spur mehr von den hängenden Schultern. Sie war freilich noch schmaler geworden als vor Schöpfs unerwartetem Ableben, das verlieh ihren anmutigen Bewegungen etwas Zerbrechliches.

      Fräulein Rosalinde stellte den Becher mit der Limonade vor Gelsenrath ab, setzte sich und blickte ihn an, als erwarte sie dringende Neuigkeiten aus der Welt.

      »Es ist sehr freundlich, dass Sie mich empfangen«, sagte Gelsenrath eine Spur zu hektisch, wie er selbst feststellte. »Ich möchte Sie noch einmal meiner vollen Unterstützung in dieser schweren Zeit versichern.«

      »Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich. Wie Sie sich vorstellen können, macht mir Thoralfs Tod immer noch sehr zu schaffen.« Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch und seufzte. »Ich sitze seit der Beerdigung vor über sieben Wochen in meiner Kammer und weiß nichts mit mir anzufangen.«

      »Haben Sie gezeichnet?«

      Das Fräulein senkte den Blick. »Nicht ein einziges Mal habe ich zu Stift oder Pinsel gegriffen.«

      »Es ist ein Jammer, Fräulein Rosalinde. Sie müssen wissen, dass ich Ihre Arbeiten stets mit großem Interesse betrachtet habe.« Gelsenrath tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Zeichnen Sie wieder! Thoralf hätte das gewollt.« Er zögerte und fügte feierlich hinzu: »Tun Sie es für ihn.«

      Die junge Dame schaute auf. Ihre Augen waren so matt, als blicke sie durch einen Trauerflor. »Ach, mein lieber Herr Gelsenrath! Genau dort, wo Sie jetzt sitzen, saß früher mein Thoralf und hat mir oft Mut zugesprochen, mich der Kunst zu widmen. Ganz genauso wie Sie jetzt.«

      Er an Thoralfs Platz, das war eine schöne Vorstellung, fand Gelsenrath. Und das trauernde Fräulein war ganz von selbst auf die Idee gekommen. Darauf ließ sich aufbauen. Doch zunächst öffnete Mutter Fritzschmann die Tür zur Essküche. Sie erkundigte sich, ob bei den jungen Leuten alles in Ordnung sei. Dabei zeichnete sich in ihrem Gesicht jene Mischung aus Missmut und Neugier ab, die Menschen an den Tag legen, die das Schlimmste befürchten und sich ärgern, wenn es nicht eintritt.

      Fräulein Rosalinde erwiderte, dass alles zum Besten stünde. Gelsenrath lobte den Wohlgeschmack der Limonade und trank zur Bekräftigung des Gesagten einen Schluck.

      Die dicke Mutter stapfte in den Korridor zurück. Gelsenrath wunderte sich, wie sehr sich zwei Frauen aus gleichem Fleisch und Blut voneinander unterscheiden konnten – so, als seien ein Nilpferd und eine Taube miteinander verwandt. Immerhin war nun das Nilpferd weg und das Täubchen noch da. Gelsenrath merkte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

      »Sie müssen meiner Mutter verzeihen!« Auch Fräulein Rosalinde klang fröhlich. »All meine Besuche beobachtet sie mit scharfen Augen. Auch wenn Thoralf hier saß, schaute sie alle paar Minuten nach dem Rechten.«

      »Vielleicht«, sagte Gelsenrath zögerlich, um den Eindruck zu erwecken, ihm käme der Gedanke erst während des Sprechens, »sollten Sie wieder öfters das Haus verlassen.«

      »Meinen Sie?«

      »Ich denke, es wäre ganz in Thoralfs Sinne. Sie verlieren ihn ja nicht aus dem Herzen, wenn Sie anderen Menschen begegnen, die auch um Thoralf trauern.«

      Fräulein Rosalinde entgegnete nichts, doch nach ein paar Augenblicken nickte sie beinahe unmerklich mit dem Kopf.

      Gelsenrath bemühte sich nach Kräften, die ernste Miene beizubehalten. Am liebsten wäre er vor Freude durch die Essküche gesprungen. Fräulein Rosalinde würde wieder ausgehen – und wenn er sich nicht zu dumm anstellte, mit ihm.

      »Sie sind so gut zu mir, Herr Gelsenrath.« Fräulein Rosalinde blinzelte. Der Trauerschleier war verschwunden. »Wenn Sie am Wochenende Zeit haben, finden Sie mich im Garten meiner Eltern in der Sparte vor den Bahnanlagen.«

      Der Ober stellte zwei Krüge Münchner Löwenbräu auf den Tisch. Wegen dieses Bieres hatte Thomas Kutscher auf dem Treffen im »Bavaria« in der Nikolaistraße 2 bestanden. Edgar Wank trank das bayerische Gebräu ebenfalls gern und mochte die Kneipe, auch wenn er sich etwas müde fühlte, ihm deshalb der Lärm auf die Nerven ging und er schon wieder über zwanzig Minuten auf den Freund gewartet hatte. Dieses Mal hatte ihn Letzteres weniger gestört, denn es galt, die Zeit bis zum Ende der Vorstellung im Alten Theater herumzubringen.

      »Erzähl, Edgar, kannst du Erfolge bei der holden Frau Rada verzeichnen?« Kutscher hob seinen Krug. »Prost!«

      Wank nahm einen kräftigen Zug Bier. Der bittere Geschmack belebte ihn augenblicklich. Was für ein Zaubertrank! »Ich werde Fräulein Rada heute Abend Blumen überreichen. In den nächsten Tagen schaue ich mir noch einmal Zazà an.«

      Kutscher lachte. »Du bist ja ein richtiger Draufgänger!«

      »Eile mit Weile. Ich kann sie schließlich zu nichts zwingen.«

      »Nein, aber du kannst es vertrödeln.«

      Übers Trödeln redet der Richtige, dachte Wank. Er trank noch


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