Mörderisches Spiel in Leipzig. Uwe Schimunek
berichtete von den beiden Barbieren und ihrer tragischen Prügelei. Die Schauspielerin packte derweil seinen Arm fester, als suche sie Schutz. Am liebsten hätte er noch ein paar weitere Schauergeschichten erfunden. Doch so angenehm ihm ihre Nähe war, lügen wollte er nicht. Also verstummte er.
Sie überquerten die Zöllnerstraße, und für die nächsten Augenblicke erlöste der überwältigende Anblick der Natur ihn von der Pflicht, erneut über Verbrechen zu berichten. Die Abendsonne stand knapp über den Bäumen hinter der Großen Wiese. Im Teich ein paar Meter vor ihnen spiegelte sich das Rot des Himmels.
Arm in Arm betraten sie den Park. Nach ein paar Schritten fragte die Schauspielerin in ernstem Ton: »Sind all diese Verbrecher und ihre Gräueltaten das Richtige für Sie, Herr Wank?«
»Hm.« Diese Frage hatte er sich schon längere Zeit nicht mehr gestellt. »Ich habe eine feste Stelle und Freude bei meiner Arbeit.«
»Aber all diese schrecklichen Dinge!«
Für einen Moment war nur das Knirschen ihrer Schritte auf dem Weg zu hören.
»Sie haben doch eine sensible Seele, Sie sind doch ein Künstler!« Eleonore Rada klang, als beklage sie einen großen Verlust.
Wank hatte bei ihren bisherigen Begegnungen nicht den Eindruck gehabt, dass die Schauspielerin sich Gedanken über sein Seelenleben oder seine Talente machte. Auf den Feiern im Theater oder in Künstlersalons schäkerte sie mit jedem, besonders gern mit Kutscher. Wank hatte das Gefühl, die Frau habe ihn überhaupt erst nach dem dritten Blumenstrauß zur Kenntnis genommen.
»Das empfinden Sie so?« Wank blieb stehen und ließ ihren Arm los. »Ich denke, dass ich auch bei der Zeitung eine Aufgabe habe. In meinem Beruf geht es um Leben und Tod.«
»Bei der Kunst geht es auch immer um Leben und Tod. Was glauben Sie, wie oft ich schon auf der Bühne gestorben bin!«
Wank bezweifelte, dass sich ein Shakespeare und eine Prügelei unter Barbieren vergleichen ließen. Andererseits kannte er weder Täter noch Opfer seiner Artikel, beide blieben für ihn die anonymen Figuren eines Polizeiberichts. Was unterschied diese armen Würstchen von den Bösewichtern in einem Drama? Vermutlich steckte hinter ihrem Handeln kein Plan. Doch änderte das etwas für den Leser?
»So ein Zeitungsartikel ist doch nichts von Bestand. Ich bin sicher, Sie würden einen besseren Künstler abgeben als Ihr Freund Kutscher.«
»Auf Thomas lasse ich nichts kommen. Er wird seinen Weg finden.«
Eleonore Rada strahlte, als wolle sie die Sonne mit ihrer Anmut übertreffen. Sie hakte sich erneut bei ihm unter und führte ihn sanft in Richtung »Schweizerhäuschen«. »Ich wollte Ihren Freund nicht herabwürdigen, glauben Sie mir das bitte!«, sagte sie nach ein paar Metern. »Ich sehe doch nur, dass Sie jeden Tag Texte verfassen, während Herr Kutscher häufig nur darüber redet. Ich finde, es ist keine Schande, fleißig zu sein. Es ist nur schade, wenn jemand nicht tut, was er vielleicht könnte.« Erneut schmiegte sie sich enger an ihn.
Sollte er stehen bleiben und sie küssen? War es nicht schade, wenn jemand nicht tat, was er könnte? Oder missverstand er sie?
Sie löste sich von ihm und fragte: »Kommen Sie am Abend in die Vorstellung? Wir geben Zazà. Die Hauptrolle spielt Irene Triesch, sie gastiert derzeit bei uns. Sie ist meine Gegenspielerin. Ich würde mich sehr freuen.«
Wieder eine Gelegenheit verpasst, dachte Wank. »Leider habe ich bereits andere Pläne. Ich werde Zazà aber in den nächsten Tagen besuchen, ganz sicher.«
»Ach, das ist schade«, sagte Eleonore Rada keck. »Ich bekomme doch so gerne Blumen.«
Das ließe sich einrichten, dachte Wank.
Thomas Kutscher legte seine Kleidung auf einem Baumstumpf am Rande der Wiese ab. In den Sportsachen fühlte er sich beinahe nackt. Tatsächlich leuchteten seine Waden speckweiß unter den kurzen Hosenbeinen hervor. Zum Glück hatten die Studenten diese abgelegene Wiese in der Nähe der Nonne, inmitten des Auwaldes, für ihr Treffen ausgewählt. Für gewöhnlich ging die Mannschaft ihrem Sport am Sonntag nach, doch in dieser Woche wollten die meisten Spieler zum Renntag ins Scheibenholz, daher wurde das Fußballspiel auf den heutigen Nachmittag vorverlegt.
Kutscher machte ein paar Kniebeugen. Es konnte sicher nicht schaden, wenn er ordentlich auf die Übungen vorbereitet war. Nach drei Kniebeugen begann Kutscher zu schwitzen. Nun, er wandelte ja nicht auf den Spuren von Turnvater Jahn. Hier ging es um die verrückte neue Sache aus England, den Gentleman-Sport. Beschwingten Schrittes drehte er eine Runde über die Wiese. Ja, er war vorbereitet. Die Herren Studenten durften kommen.
Ein wenig wunderte sich Kutscher über sich selbst, normalerweise kam er als Letzter. Doch nach der Turmuhr, die er auf dem Weg hierher passiert hatte, blieb noch reichlich Zeit bis zum vereinbarten Treffen. Dabei erschien es ihm durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Herren Studenten das akademische Viertel verstreichen ließen, bevor sie im Park erschienen. Leider trug er keine Uhr bei sich, um die Zeit zu überprüfen.
Doch das musste er nicht mehr, denn plötzlich hörte er aus Richtung der Stadt Fahrräder nahen. Die Fahrer unterhielten sich lautstark. Sie waren zwischen den Bäumen nur zu erahnen, den Stimmen nach mussten es fünf, sechs oder mehr sein.
Als die Gruppe die Lichtung erreichte, zählte Kutscher nicht weniger als neun. Die jungen Herren trugen leichte Jacken und darunter bereits ihre Sportbekleidung. Sie lehnten ihre Fahrräder an die Bäume und eilten auf ihn zu. Er kannte nur den hochgewachsenen Blondschopf in der Mitte, der einen grauen Ball in der Hand trug. Der Student hieß Anton Rübele, stammte aus dem Badischen und hospitierte gerade am Alten Theater.
»Desch isch der neue Sportfroind«, sagte Rübele im Dialekt seiner Heimat zu den Kameraden und wandte sich Kutscher zu. »In der Monnschoft pflegen wir de Du, wenns rescht isch.« Er streckte seine Hand aus. »Anton – oder Tony.«
Die anderen Studenten riefen ihre Namen, zu schnell, als dass Kutscher sie sich hätte merken können. Ein Johann oder Johnny war dabei, ein Harald beziehungsweise Harry, ein Gerhard oder Gerry …
»Thomas«, entgegnete Kutscher und zögerte kurz. Wenn er schon einen englischen Sport betrieb, dann richtig. »Gern auch Tommy.«
Rübele rief ein paar knappe Anweisungen, und die Studenten stoben auseinander. Dann warf der Wortführer Kutscher den Ball zu. Der versuchte ihn zu fangen, das gelang ihm aber nicht. Die Kugel prallte von seiner Hand ab und hüpfte über die Wiese.
»Der ist viel leichter, als ich gedacht habe«, sagte Kutscher.
»Da gewönschte disch schnell dran, Tommy.« Rübele lachte.
An den beiden Längsenden der Wiese markierten Studenten mit ihren Jacken die Tore. Ein Kamerad kickte den Ball zu Rübele. Der stoppte die Kugel mit dem Fuß.
»Mit dir wäre mer schon zehn Sportfroinde. Nun noch ei Mann, und ab Herbscht könnte es rischtisch loschgehe.« Mit der Innenseite des Fußes schob Rübele den Ball zu Kutscher.
Die Kugel holperte über einen Grashügel. Kutscher hob den rechten Fuß an, und es gelang ihm, das Leder mit dem Fuß an den Boden zu bringen. Der Ball sprang nur ein paar Fußbreit zurück und blieb liegen. So schwer war das also gar nicht.
Rübele nickte anerkennend. Der Blonde trat ein paar Schritte zurück und rief Kutscher zu: »Spiel! Mit da Innenseite vonsch de Fuß!«
Kutscher guckte den Blondschopf an. Der schien nicht zu scherzen, vielmehr stand der lange Kerl mit angewinkeltem Bein da und klopfte mit dem Finger auf den Spann. Also gut, Kutscher kam sich zwar ein bisschen vor, als watschele er wie eine Ente, doch er trat mit dem linken Bein einen Schritt vor und stupste die Kugel dann wie verlangt zu Rübele. Erstaunlicherweise rollte der Ball tatsächlich in dessen Richtung.
»Haschte gut gemacht!« Rübele dribbelte den Ball noch ein paar Meter weiter und kickte ihn mit viel Kraft zu Kutscher.
Kutscher stoppte und spielte zurück. Dieses Spiel wiederholten sie noch ein paar Mal. Rübele entfernte sich dabei immer