Der ungeliebte Amadeus und andere Kriminalgeschichten. Dietmar Hann
davon war es für ihn selbstverständlich, als alter Mensch größere Beträge niemals ohne Begleitung abzuheben. Aber wen hätte er mitnehmen sollen? Helga? Unmöglich! Die war erstens noch nicht eingeweiht und saß zweitens beim Friseur. Oder Frank? Um Gottes Willen! Dieses arbeitsscheue Element durfte auf keinen Fall Wind von der Höhe seiner Ersparnisse kriegen. Der würde doch glatt die Jobsuche aufgeben und ihn in Zukunft nur noch anschnorren.
Damit das Abheben des Geldes schnell und möglichst unauffällig vonstattengehen konnte, hatte Werner gestern noch die Überweisung der Summe vom Sparkonto aufs Girokonto veranlasst. Und glücklicherweise war er heute der einzige Kunde im Schalterraum gewesen, sodass er nicht befürchten musste, von Betrügern beobachtet zu werden. Er klopfte zweimal auf die Stelle, wo der Geldumschlag an seinem Herzen ruhte, und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Aber auch hier drohte keine Gefahr, der Platz vor der Sparkasse war menschenleer. Nur eine junge Frau in Motorradkleidung stand etwas abseits und rauchte. Ihre langen blonden Haare strahlten förmlich im Sonnenlicht. Das musste Kathrins Freundin sein.
„Herr Gattermann?“, fragte sie, als er zwei Schritte vor ihr stand, und trat die Zigarette aus.
„Der bin ich“, nickte er. „Und Sie sind …?“
„Julia Bienert, die Freundin Ihrer Enkelin Kathrin. Kathrin hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Ehrlich gesagt, hab ich Sie mir älter vorgestellt und nicht so rüstig und flott.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Haben Sie das Geld?“
Er ergriff ihre Hand. „Guten Tag erst mal. Danke, man tut, was man kann. Und wie geht‘s Kathrin?“
„Oh, soweit ganz gut.“ Julia sah ihn an. „Aber richtig super wird es ihr erst gehen, wenn sie den blöden Makler bezahlen und das Modestudio eröffnen kann.“ Sie schaute auf die Uhr und zog die Stirn in Falten. „Ich würde ja gern noch einen Kaffee mit Ihnen trinken und ein bisschen plaudern, aber ich muss jetzt wirklich los. Noch so einen Stau wie vorhin und Kathrins Träume sind ausgeträumt.“
„Um Gottes willen, bloß das nicht!“ Werner holte eilig das Kuvert aus der Brusttasche, reichte es Julia und sah ihr dabei prüfend in die Augen. „Ich kann mich doch hundertprozentig auf Sie verlassen, oder? Mit so viel Geld unterwegs zu sein, ist nicht ganz ohne. Bis Berlin ist es schließlich kein Katzensprung.“
„Keine Angst, ich pass‘ schon auf mich auf. Und auf das Geld natürlich auch!“ Julia öffnete den Reißverschluss ihrer Motorradkluft und stopfte sich den Umschlag unters T-Shirt ins Dekolleté. „Hier ist es vor unbefugtem Zugriff absolut sicher“, sagte sie und lächelte ihn an.
Strammes Mädel, dachte Werner. Sehr hübsch. Und dieses Lächeln, einfach bezaubernd. Es wird schon alles gutgehen. Er folgte ihr zum Motorrad, das seinem Wagen fast gegenüber geparkt war.
„Na dann“, sagte Werner und reichte ihr die Hand, „kommen Sie pünktlich und heil in Berlin an. Und grüßen Sie Kathrin von mir.“
„Ach, Herr Gattermann“, rief Julia, während sie den Motorradhelm wieder abnahm, den sie sich gerade erst übergestülpt hatte. Sie schüttelte die blonde Mähne und schlug sich die flache Hand vor die Stirn: „Jetzt hätte ich es doch beinahe vergessen. Ich soll Ihnen natürlich von Kathrin vielen herzlichen Dank sagen. Sobald sie Zeit hat, will sie ihren lieben Opi besuchen und ihn persönlich drücken und küssen. Für heute müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“ Sie legte den Arm um Werners Hals, drückte ihn fest an sich, sodass er nicht nur ihre Brüste, sondern auch das Geldbündel spüren konnte und küsste ihn schmatzend auf beide Wangen.
Puuuh, dachte Werner, als er zu seinem Wagen ging, ist zwar sympathisch und sieht klasse aus, stinkt jedoch mächtig nach Zigarettenqualm. Genau wie mein vermaledeiter Schwiegersohn.
Plötzlich drehte er sich noch einmal um und rief Julia zu: „Kathrin soll mich anrufen, wenn alles geklappt hat!“ In dem Moment streifte sein Blick ihr Nummernschild. Aber … wieso hatte das … ein ortstypisches und kein … Berliner Kennzeichen? Julia wohnte doch in Berlin und nicht in diesem Kaff hier. Wie hätte sie sonst Kathrin kennenlernen sollen? Hier war doch was faul! Werner lief zu Julia zurück, die bereits auf dem Motorrad saß und es gerade startete.
„Ist noch was?“, rief sie, als er neben ihr stand.
„Nur eine Kleinigkeit: Würden Sie bitte noch mal absteigen und mir Ihren Ausweis oder Führerschein zeigen?“
„Hab ich etwa falsch geparkt?“ Julia wurde blass, dann lachte sie: „Aaah, verstehe: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Na ja, bei so viel Geld auch logisch. Warten Sie …“ Doch anstatt abzusteigen und ihre Papiere zu zücken, gab sie Gas und brauste davon.
Werner eilte außer sich vor Entsetzen zu seinem Wagen, warf sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Instinktiv tastete er nach dem Blaulicht, griff jedoch ins Leere. Zum Teufel, er war doch längst „a. D.“ und saß nicht im Polizeiauto! Egal, er musste die flüchtige Julia einholen. Werner schaltete in kurzen Intervallen höher und jagte ihr schließlich im vierten Gang hinterher. Plötzlich bog sie nach links in eine Fußgängergasse ein, in die Werner ihr mit dem Auto nicht folgen konnte.
„Na warte, du blonde Hexe, du trickst Werner Gattermann nicht aus! Der weiß, wo diese Gasse mündet, und da wird er dich kriegen“, schrie er, während er mit 90 Stundenkilometern durch die Stadt raste. Passanten sprangen zur Seite. Werner behielt den Fuß auf dem Gaspedal. Bei Gelb über die Kreuzung. Kein Problem. Mazda überholt, Mercedes überholt. Jetzt noch den Kleinbus …
Als die Motorradfahrerin aus der Gasse herauskam, war sie nicht mehr allein auf der Maschine. Auf dem Rücksitz saß ein Mann, der ebenfalls einen Helm aufhatte, aber keine Motorradkluft, sondern normale Straßenkleidung trug. Sie bog jedoch in die entgegengesetzte Richtung ein und rollte somit direkt auf Werner zu. Als sie aneinander vorbeirauschten, erkannte ihn Julia und gab sofort Gas. Werner bremste scharf, schleuderte wie in einem billigen Actionkrimi den Wagen herum, wobei er fast ein Müllauto rammte, und jagte dem Motorrad hinterher. Der Abstand war inzwischen schon ziemlich groß geworden. Werner fluchte. Zirka hundert Meter vor ihm musste Julia an einer roten Ampel halten.
„Gleich hab‘ ich dich, du Schlampe“, schrie er.
Noch knappe dreißig Meter … Plötzlich sprang der Mann vom Motorrad und rannte in eine Querstraße hinein. Julia startete sofort durch, obwohl die Ampel noch Rot anzeigte. Werner preschte ihr hinterher. Noch zwanzig Meter … Er sah, wie Julia auf einmal den Kopf drehte und nach hinten schaute.
„Ich bin noch daaa“, schrie er ihr zu, „und du wirst mich auch nicht mehr looos! Aber kuck lieber nach vorn, dämliche Kuh, sonst …“
Zu spät. Das Motorrad krachte in einen Radfahrer mit knallroten Kopfhörern auf den Ohren, der, ohne auf den Verkehr zu achten, die Straße kreuzte. Samt Fahrrad wurde er in die Luft geschleudert, knallte zu Boden und schlitterte über den Asphalt, bevor er reglos liegenblieb. Julia war mit der Maschine beim Aufprall auf die Seite gefallen und rutschte ebenfalls über die Straße. Fünf, acht Meter weit.
Werner riss entsetzt die Augen auf. Bremsen quietschten. Seine Bremsen. Er sprang aus dem Auto und rannte, so schnell er konnte, zur Unfallstelle.
Julia lag auf dem Rücken, der Kopf war zur Seite gedreht, das rechte Bein unter der Maschine eingeklemmt. Ein Passant sprang hinzu, hob das Motorrad von Julias Bein und schob es an den Straßenrand. Werner kniete sich neben Julia hin, rief ihren Namen, klopfte aufs Helmvisier, tastete an ihrem Hals nach dem Puls. Einmal, und noch einmal – er spürte nichts. Verdammte Scheiße, dachte er, die ist … tot. Aber die hat doch mein Geld! Und Kathrin hat keins …
Drei Meter weiter versuchte eine zierliche Frau dem verunglückten Radfahrer Erste Hilfe zu leisten, eine andere telefonierte nach dem Rettungsdienst.
Inzwischen war die Unfallstelle von etlichen Gaffern umringt. Einer fragte sogar, ob er helfen könne.
„Neiiin“, schrie Werner, „mir kann keiner helfen! Diese elende Hure hat mich beklaut! Wo hat das Miststück … bloß das … Geld versteckt …?“
Die Gaffer gafften sich erstaunt an: Was war mit dem Alten los? Ein betrogener