Nina und die Sphinxwelt. Sarah Nicola Heidner
„Und Tobias?“
„Ich kümmere mich um deinen Bruder“, versprach Blyn.
„Ich gehe nirgendwo hin“, murrte Nina und verschränkte die Arme. Sollte es wirklich Sphinxen geben? „Wer sind Sie überhaupt?“
„Eine Sphinx, was sonst?“, grinste Blyn und sprang von ihrem Stuhl auf. Im Sprung verwandelte sie sich, und als ihre Hände und Füße die Erde berührten, waren es schon die Pfoten einer Katze.
„Nein!“, rief Nina erschrocken. „Das ist unmöglich!“ Denn vor ihr, auf dem Boden, hockte – Schneewittchen!
Ein leises, glucksendes Geräusch kam vom Fußboden.
Lachte ihre Katze etwa gerade? „Schneewittchen war all die Zeit – ein Mensch?“, flüsterte Nina fassungslos und drückte sich die Hände gegen die Schläfen, um nicht zu hyperventilieren. Mit einem letzten, belustigten Maunzen hob die Katze die Pfote und verschwand. „Sie hat mich die ganze Zeit beobachtet. Aber wieso? Warum beschattet mich die – die Sphinxwelt?“, fragte Nina halb wütend, halb ungläubig.
„Du sagst es so, als wäre es etwas Schlechtes“, stellte Herr Malan beleidigt fest. „Wir haben dich nur beschützt, vor diesen zwei Frauen und dem Mann zum Beispiel. Dummerweise war Blyn zu dem Zeitpunkt gerade nicht in deiner Nähe, sonst hätte sie für dich gekämpft.“
„Das waren auch Sphinxen?“
„Was sonst?“, bestätigte der Lehrer, als wäre es das Normalste der Welt.
„Ich gehe nirgendwo hin“, betonte Nina noch einmal. „Meine Eltern … Meine Freunde … Ich werde nicht weggehen!“
„Mach dir um deine Eltern keine Sorgen. Ich hole kurz deinen Rucksack“, sagte Herr Malan und überging somit ihren Kommentar. Dann sprang auch er vom Stuhl, verwandelte sich in eine Katze und huschte leise nach draußen. Nina überlegte, ob es die richtige Entscheidung sei abzuhauen, aber das würde wahrscheinlich nichts bringen, weil Blyn und Herr Malan sie doch finden würden. Sie war zwar ängstlich, aber ein wenig Neugier hatte sich nun doch eingeschlichen. Ob sie sich wohl auch in eine Katze verwandeln konnte? Es bestand ja noch die Möglichkeit, dass alles ein großes Missverständnis war und die Sphinxen jemand ganz anderen als sie benötigten, um diese Figur zu retten. Dass sie gar keine Sphinx war, sondern ein normaler Mensch.
Nina klammerte sich an diesen Strohhalm wie ein Ertrinkender und schloss die Augen. Ich werde eine Katze, murmelte sie halbherzig. Plötzlich spürte sie den Boden. Feine Fasern eines teuren, orientalischen Teppichs! Sie öffnete die Augen. Tatsächlich, sie war eine Katze! So groß wie Schneewittchen, nur mit weißem Fell und ihren eigenen, braunen Augen. Sie sah sich suchend um. Wo waren ihre Klamotten? Nina drehte sich im Kreis und entdeckte sie auf dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Wie riesig der nun aussah! Und wie scharf sie alles erkennen konnte!
Die Tür ging auf und im nächsten Moment spürte Nina, dass sie wieder ein Mensch war und auf dem Boden lag. „Haben Sie mich erschreckt!“, rief sie Herrn Malan entgegen, der durch die Tür gekommen war.
Er hielt ihr einen winzigen blauen Rucksack hin.
„Ich gehe trotzdem nicht!“ Nina schüttelte entschieden den Kopf und rappelte sich auf. „Ich habe alles: meine Familie, meine Freunde, ich gehe zur Schule. Also nein!“
Traurig schüttelte Herr Malan den Kopf. „Du verstehst nicht“, sagte er leise. „Du hast keine Wahl, Nina. Die Entscheidung liegt nicht bei dir, so leid es mir tut.“
Herr Malan eilte voran. „Ich habe mich entschieden“, brüllte Nina immer noch, fand es aber klüger, ihrem Lehrer zu folgen. Wer weiß, vielleicht verwandelte er sich auch noch in einen Menschen mit ebenso schrecklichen Schlangenhaaren wie die falsche Frau Barinkson und griff sie an. „Ich bleibe hier! Ich habe nichts mit den Sphinxen am Hut. – Hören Sie mir überhaupt zu?!“
Aber ihr Lehrer schien sie tatsächlich voll und ganz zu ignorieren und brachte sie immer weiter. Sie durchquerten die Stadt und liefen schließlich an ein paar Wiesen vorbei. Er hatte ihr deutlich gemacht, dass er ihren Eltern und Freunden etwas vorlügen würde, wovon Nina selbstverständlich gar nichts hielt, aber was sollte sie tun?
Endlich hielt er an einer kleinen Wiese an.
„Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin!“, rief Nina wütend. „Ich will jetzt sofort zurück! Zu meinen Eltern! Ich fahre zurück!“
„Du hast keine Wahl“, sagte Herr Malan noch einmal leise und drückte ihr sanft die Schulter. „Im Rucksack ist ein Zelt“, erklärte er dann. „Der Schutzengel wird zu dir sprechen, wenn er bereit ist. Möge die Muata bei dir sein.“ Er nickte ihr zu, verwandelte sich in eine Katze und war bald zwischen den hohen Tannen verschwunden, die die Wiese säumten.
Nina schaute ihm eine Zeit lang hinterher. Sie konnte sich nicht bewegen, sondern zitterte vor Angst und Wut. Wie konnte er es wagen, ihr alles zu nehmen? Wie konnte es die Sphinxwelt wagen? Ihre Freunde, ihre Familie, alles weg! Tränen rannen ihr über die Wangen und sie setzte sich auf den kühlen Boden, dessen Feuchte durch ihre Kleidung drang. Ihr Leben hatte sich in den letzten Tagen von einem normalen Teenieleben zu einem Albtraum verwandelt.
Nachdem sich Nina etwas beruhigt hatte, öffnete sie den Rucksack, schaute hinein und fand ein rotes Knäuel. Seufzend holte sie es heraus und entknotete es. Es war ein einfaches Zelt, das schnell aufgebaut war. Nach zwei Minuten saß Nina im Zelt, in einen Schlafsack gehüllt, den sie ebenfalls im Rucksack gefunden hatte. Eine Weile verharrte sie, schaute nach draußen, dachte an ihre Eltern und daran, dass sie zurückwollte. Sie fühlte sich elend. Ihr ganzes altes Leben, wie sie es kannte und auch liebte, war von einem Tag auf den anderen Vergangenheit.
Vor ihr ragten zwei riesige Felsen auf. Nina sah nur ihre Spitze, der Rest verbarg sich hinter dem Rand der Wiese und reichte bis ganz unten, wo ein kleiner Fluss in einer Schlucht seine Bahnen zog.
Sie fühlte sich allein gelassen und vergessen. Was wäre, wenn kein Schutzengel sie haben wollte? Das war ja echt ein super Geburtstag! Was brachte es ihr eigentlich, dass sie eine Sphinx war? – Ein gefährliches Leben, nichts weiter, sagte eine leise und fiese Stimme in ihrem Kopf.
Sie schaute wieder in den Rucksack und fand ein Geburtstagsgeschenk. Es entpuppte sich als eine kleine Schatulle mit einem Zettel darin, auf dem geschrieben stand: „Du kannst alles schaffen, denk daran!“ Na super, Herr Malan, dachte Nina wütend. Sie pfefferte die Schatulle in die Ecke des Zeltes und tastete nach ihrer Kette Ignis. Sie brannte heiß und glühend auf ihrer Haut. Wieso – verdammt noch mal – konnte sie dieses Ding nicht einfach ablegen?
Missmutig kroch sie aus dem Schlafsack, verließ sie das Zelt, setzte sich auf einen Felsen und ließ ihren Blick über die Schlucht wandern. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken zurückzugehen. Sie würde den idiotischen Sphinxen einen Strich durch die Rechnung machen! Doch wo sollte sie hin? Herr Malan erzählte Lügengeschichten über sie, und wenn sie dann wieder auftauchte, wusste sie nicht, was angeblich mit ihr geschehen war …
Sie drehte sich um und begutachtete ihr Zelt. Es war wirklich von einer sehr einfachen Machart. Ob es wohl einem Sturm standhalten würde? Seufzend ließ sie ihren Blick noch einmal über die Schlucht schweifen.
Dann hörte sie ein Geräusch. „Was machst du denn da?“, gluckste eine Stimme. „Wenn ich dich so ansehe, meine ich, deine Gedanken lesen zu können. Sie sagen: Spring ich oder spring ich nicht?“
Nina fuhr herum. Sie erkannte einen älteren Mann mit langem, silbernem Haar, der neben ihrem Zeltlager stand. „Was denken Sie sich eigentlich dabei, mich so zu erschrecken?“, fuhr sie ihn wütend an.
„Wenn du mich als Schutzengel nicht möchtest, dann sag es“, meinte der Mann lächelnd.
„Oh, äh …“ Verwirrt schüttelte Nina den Kopf. „Das meine ich nicht“, sagte sie schnell. „Wer sind Sie?“
„Ich heiße Unicus“, sagte der Mann mit dem silbernen Haar und lächelte leicht. „Aber nun zu dir, wie geht es dir?“
„Äh