Nina und die Sphinxwelt. Sarah Nicola Heidner
„Hörst du wohl auf!“ Wütend entriss Mia ihr die Chipstüte und warf sie von Janas Hochbett, auf dem sie beide saßen, nach unten, wo Nina sie auffing und auf den Tisch legte – nicht ohne selbst vorher noch einmal in die Tüte zu langen.
„Die sind für abends!“, fuhr Mia fort. „Außerdem gibt es gesunden Salat und Nudeln! Das tut dir gut, du wirst sehen!“
„Chill mal!“, sagte Jana genervt und verdrehte mit Blick auf Mia die Augen. „Wir sind hier auf Klassenfahrt, da kann man wohl mal etwas Süßes essen. Und es sind ja auch nur zwei …“
„Siehste! Ganze zwei Wochen! Wie soll bitte schön unser Vorrat reichen, wenn du alles allein wegfrisst? Und außerdem hast du richtig bemerkt, man kann ‚mal‘ etwas Süßes essen. Mal ist in Ordnung, doch du verwechselst anscheinend ‚mal‘ und ‚immer‘, kann das sein?“
Mia warf Jana ein Kissen an den Kopf. „Das ‚Fressen‘ nimmst du zurück, du dumme Salatkuh!“
„Die, die zum Mittagessen gehen wollen, die gehen, und die anderen lassen es sein“, unterbrach Pia sie genervt, hüpfte von ihrem Bett, schlüpfte in die Hausschuhe, zog sich die Regenjacke über und verließ, gefolgt von Nina, Mia und Maria, das Zimmer.
„Na schön“, brummte Jana, „na schön“, und folgte ihnen.
Am Nachmittag verzogen sich die Wolken und die Sonne kam heraus. Die Mädchen liehen sich beim Herbergsvater Tischtennisschläger und belagerten die Tischtennisplatte.
Den Rest des Abends verbrachten sie größtenteils gelangweilt. Sie waren alle nicht so richtig bei der Sache, egal ob sie Monopoly oder Tischtennis spielten, denn die Gedanken der Mädchen kreisten um die ungewöhnlichen Ereignisse der letzten Tage.
Schneewittchen war nicht wieder aufgetaucht, was Nina zwar Sorgen bereitete, aber da sie nichts daran ändern konnte, rannte sie nur die Gänge ein paar Mal suchend rauf und runter. Und Frau Barinkson um Hilfe bitten konnte sie auch nicht – die Lehrerin hatte sich wegen Schneewittchen schon genug aufgeregt.
Die Sphinxen
„Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Freude, sei auch mit dabei“, sangen Mia, Pia, Jana und Maria im Chor. Tobias krähte: „Herzlichen Mückwunsch zum Burseltag, Ina!“
„Danke!“, lachte Nina, rollte sich aus dem Bett und nahm ihre Geschenke entgegen; ein gemaltes Bild von ihrem Bruder, zwei Bücher von Mia, eine Tasse mit ihrem Namen drauf von Pia, ein Computerspiel von Jana und zehn kostenlose Reitstunden – na klar – von Maria!
In diesem Moment hatte sie all die Sorgen der letzten Tage verdrängt und war rundum glücklich.
Die Mädchen zogen sich um, dann gingen sie mit Tobias im Schlepptau in Richtung Frühstücksraum. Als sie an dem Raum vorbeikamen, an dem Nina am ersten Abend gelauscht hatte, hörte sie Herrn Malans leise gemurmelte Stimme und drehte sich ruckartig um. Er war also wieder da?! Mit einem Mal war sie vollkommen ernst. „Ich komme gleich nach“, sagte sie zu ihren Freundinnen.
„Was willst du denn machen?“, fragte Jana misstrauisch.
„Ach, ich habe nur etwas im Zimmer vergessen“, sagte Nina betont gleichgültig.
„Sollen wir warten?“, fragte Pia.
„Nein, nein, nicht nötig“, lehnte sie ab und wartete, bis ihre Freundinnen zusammen mit Tobias um die Ecke verschwunden waren. Dann betrat Nina ohne zu klopfen den kleinen Raum mit einem runden Tisch und zehn Stühlen. Links saß Herr Malan und ihm gegenüber eine Frau mit blauen Augen und hellblonden Lockenhaaren, die ihr bis zur Schulter reichten. Sie erinnerte ein wenig an das Bild eines Engels, das Ninas Religionslehrerin einmal mitgebracht hatte, als sie über das Thema „Himmel“ und alles, was damit zu tun hatte, gesprochen hatten. Ob es wohl Blyn war?
„Ah, Nina. Wir haben dich schon erwartet! Setz dich doch“, sagte ihr Lieblingslehrer und klopfte auf den Stuhl, der rechts neben ihm stand.
Nina nahm Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich höre.“
„Erst mal einem herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, fing die Frau an und reichte dem Mädchen die Hand.
„Genau, herzlichen Glückwunsch!“ Herr Malan kam dem Beispiel nach. „Nun, dein Geschenk bekommst du später. Du hattest Fragen an mich?“
„Ja“, sagte Nina. Sie beschloss, ihre Fragen offen zu stellen. „Ich habe Sie beide belauscht, Sie heißen doch Blyn, oder? Ich verstehe gar nichts mehr. So viel Merkwürdiges passiert und ich … ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Ich … verstehe das einfach nicht.“
Blyn und Herr Malan tauschten, wie Nina zu beobachten glaubte, einen unauffälligen Blick. Dann begann der Lehrer langsam zu erzählen: „Nun denn, es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Also bringen wir es hinter uns: Du bist eine Sphinx, Nina – nein, unterbrich mich bitte nicht. Also, Sphinxen sind Orakeltiere in Ägypten, wenigstens waren sie das früher, wie du vielleicht weißt. Nun, es gibt aber unter allen Sphinxen nur eine, die die Orakelfragen stellt beziehungsweise gestellt hat. Das ist die Muata. Aber Sphinxen sehen anders aus als das Bild, das von antiken Sphinxen überliefert wurde. Über die Jahrhunderte haben sie sich verändert und sehen den Menschen jetzt sehr ähnlich. Allerdings haben sie von ihrem halben Löwenkörper noch etwas behalten – sie können sich in Katzen verwandeln.“
Nina war völlig durcheinander und wollte gern etwas fragen. Doch schon sprach Blyn weiter. „Du musst in diese Sphinxwelt, denn du bist die Auserwählte. Den Sphinxen ist vor … hm … vielen Jahren etwas Wichtiges gestohlen worden, nämlich die goldene Figur der ersten Muata, die vor Millionen Jahren lebte. Sie ist sehr wertvoll für die Sphinxen. Du bist aber nicht nur eine Sphinx, sondern auch eine Elementatorin. Das bedeutet, dass du mit einem Element kämpfen kannst, und zwar mit dem Feuer. Die letzte Elementatorin – das heißt, es war ein Elementator – lebte vor achttausend Jahren. Und nun bist du auserwählt und musst zur Sonnenwende, am einundzwanzigsten Juni – denn nur zur Sonnenwende gelingt diese Reise –, im Land der Sphinxen sein, wo du lernen wirst, dein Element zu beherrschen, um dann loszuziehen und die Figur zu suchen. Du bist jetzt dreizehn und hast genau das nötige Alter erreicht.“
„Moment! Sie spinnen doch!“, sagte Nina mit zittriger Stimme und strich sich nervös die Haare aus der Stirn. Wenn sie nicht bereits gesessen hätte, wäre sie sicher umgefallen. „Ich gehe zufällig noch zur Schule!“
„Es gibt dort auch Schulen, Nina“, sagte Herr Malan.
„Sind m-meine Eltern a-auch Sphinxen?“, stammelte sie.
„Nein. Das ist immer so, Nina: Es vererbt sich durch ein Auswahlverfahren, das niemand erklären kann. Deine Eltern sind keine Sphinxen, das wüsstest du sonst schon. Nun, denn“, sagte Blyn und stand auf, „du solltest dich auf den Weg machen, Nina. Du hast nur noch … Jan?“
„Zehn Tage“, seufzte Herr Malan und verdrehte mit Blick auf das Mädchen kopfschüttelnd die Augen. „Immer noch ’ne Niete in Mathe!“
Nina lächelte nicht.
„Selbst wenn ich glauben sollte, dass es Sphinxen gibt, wie finde ich denn in das Land der Sphinxen?“, fragte sie zögerlich.
„Es ist ganz einfach“, erklärte Herr Malan, der jetzt ebenfalls aufgestanden war. „Du nimmst ein Zelt mit und einige andere Dinge, die du von mir bekommst. Dann verbringst du eine Zeit lang unter sternenklarem Himmel. Irgendwann wird sich dein Schutzengel zeigen. Es gibt über zehntausend Engel“, sagte der Lehrer.
Engel! Sphinxen! Nina schwirrte der Kopf. Sie lehnte sich an die Wand. „Ich will aufwachen“, wisperte sie beschwörend. „Aufwachen aus diesem Albtraum!“ Sie kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder, aber an dem Zimmer hatte sich nur Blyn verändert, die belustigt dreinsah und krampfhaft versuchte, nicht loszulachen. Auch Herr Malan sah amüsiert aus, konnte dies aber etwas besser verbergen.
„Ich