In den Tiefen des magischen Reiches. Hannelore Nissen
mich sofort in ihr Zimmer und wollen wissen, wie meine Geschichte weitergeht. Da beginne ich zu erzählen, weiß allerdings auch noch nicht genau, was weiter geschieht.
3. Kapitel
Ein bunt bemaltes, leuchtendes Schiff flog in strahlender Sonne und großer Höhe. Es hatte stolze Segel, die den Wind liebten und sich von ihm aufblasen ließen, sodass das Luftschiff rasend schnell über einem weiten Meer dahinschwebte.
Es erreichte schließlich das Ufer eines fremden Landes. Von der Küste aus stieg das Gelände stark an. Ein junger Mann stand aufrecht darin und versuchte, durch Wolkenlücken das bizarre Gebirge unter sich wahrzunehmen. Einsam und schroff ragten Felsen in eisige Höhe und doch waren sie von beeindruckender, erhabener Schönheit. Hier und da erkannte Tahomo Gämsen. Sie sprangen über Steine und Geröll. Wie sie das nur schafften? Sonst lebte hier scheinbar niemand.
Aber halt! Er beugte sich tief über den Rand des leuchtenden Bootes, um die Landschaft unter ihm genauer erkennen zu können. Dort stand eine kleine Hütte. Sie war offensichtlich aus zufällig gefundenen und aufgelesenen Planken mithilfe junger, biegsamer Wurzeln zusammengefügt worden. Schief und wacklig sah diese armselige Behausung aus. Der junge Mann dachte: Sie ist sicherlich längst verlassen. Wer dort wohl gewohnt haben mag? Na, wenn der nächste Sturm kommt …, mutmaßte er.
Aber nein, nahe der Hütte sah er den Besitzer kommen. Ein uraltes Männlein war es mit einem auffällig breiten Buckel. Seine krummen Beine steckten in roten Strümpfen, die man deutlich erkannte, weil es eine weite, aber viel zu kurze Hose trug. Seine Füße steckten in verschiedenen Schuhen. Es schleppte ein Bündel Holz auf seiner Schulter. Trotz dieser Last aber trug dieses Männlein vor seiner Brust noch eine winzige Tasche. Die schien es mit den Händen fest zu umklammern. Als das kleine Wesen das Luftschiff mit dem dahinfliegenden Prinzen erblickte, warf es das Bündel ab und verbeugte sich tief.
Tahomo dachte: Wie kann er mich kennen? Doch dann versperrte ihm eine Wolke die Sicht.
Weiter und immer weiter flog das stolze Gefährt mit dem Prinzen. Als er wieder hinuntersehen konnte, war er bereits fern von jenem Ort, an dem das kleine Lebewesen hauste. Jetzt wurde das Hochgebirge immer schroffer. Tahomo sah nur noch die von Schnee bedeckten Gipfel oder Felsen mit messerscharfen Graten. Zwischen ihnen stürzten von Zeit zu Zeit gefährliche Geröll-Muren donnernd in die Tiefe. Er wusste, dass das Geröll dann alles mit sich riss, was in seiner Nähe war, und ein banges Gefühl beschlich den jungen Prinzen.
„Wohin trägst du mich, mein leuchtendes Boot?“ Der junge Mann schrie seine Worte in den Wind. Da er hier allein war, rechnete er jedoch mit keiner Antwort.
Aber was für eine Überraschung: Am Bug des bunt bemalten Schiffskörpers erstrahlte plötzlich eine goldene Gestalt mit wunderlichem, eher männlichem Kopf. In dem Augenblick, als Tahomo seine Frage in den Wind schrie, erwachte diese Gestalt zum Leben. Aus seinen Lippen sprudelte ein schmales, weißes Band mit singender Schrift, welche im Fahrtwind heftig zitternd und wirbelnd flatterte. In tönenden Worten wurde dem Prinzen mitgeteilt, dass das Boot die Aufgabe habe, ihn, den Auserwählten, zu Salmidon, dem Herrscher des Magischen Reiches, zu bringen.
„Genau dorthin wollte ich, denn ich muss den Auftrag meines Vaters erfüllen!“, rief der Prinz erregt.
„Danke nicht mir, Tahomo“, erklang das singende Band, „danke dem Gebot eines höheren Wesens. Es hat mir befohlen, dich auf deinem Weg zu beschützen!“
„Wie komme ich zu Salmidon? Verrate es mir!“
„Die Zeit ist noch nicht reif, Tahomo, noch muss dies für dich ein Geheimnis bleiben.“
„Auch für euch, meine Kleinen, muss noch ein Geheimnis bleiben, wie die Geschichte weitergeht. Einen Teil davon erfahrt ihr im nächsten Kapitel, aber das muss ich erst schreiben!“
„Weißt du schon, was passiert?“, drängeln meine Enkelsöhne.
„Nein, das weiß ich vorher nie …“
Dann herrscht eine Weile Stille zwischen uns.
„Omama, Mika und ich haben bald Ferien. Können wir zu euch kommen? Dann hast du bestimmt das neue Kapitel fertig!“
4. Kapitel
Der Flug im leuchtenden Schiff unter der wärmenden Sonne hatte den Prinzen seine schweren Sorgen fast vergessen lassen. Nun aber legte er sich still auf den Boden des fliegenden Gefährts und schloss seine Augen. In der Erinnerung über das, was zu Hause geschehen war, kamen ihm Tränen.
Was aber hatte sein Leben so völlig verändert?
Ehe sein Vater, der Herrscher von Tandonay in die Krankheit tiefer Traurigkeit gefallen war, nicht mehr sprach, kaum aß und regungslos mit trüben Augen vor sich hin starrte, hatte er seinen Sohn Tahomo zu sich kommen lassen.
„Mein geliebter Sohn“, hatte er mühsam und leise gesprochen. „Ich habe es nie verstanden und ahne auch heute nicht, warum deine Mutter plötzlich nicht mehr bei uns war. Ist ihr ein Unglück zugestoßen? Oder geschah hier ein Verbrechen? Ich bin inzwischen zu alt und zu schwach, um weiter in die Welt zu gehen und die Ursache zu suchen. Ich bin nicht mehr in der Lage, für das, was an meinem Hofe geschehen ist, eine Erklärung zu finden oder gar ein böses Vergehen rächen zu können!“ Langsam hatte sich der alte König zum Sohn gebeugt und ihn lange umarmt. „All die Jahre habe ich dich mit viel Wissen ausgestattet und zu aufrechtem Denken erzogen. Mein Vertrauen zu dir ist unendlich groß, also auch meine Überzeugung, dass du diese schwere Aufgabe für mich lösen kannst! Geh in die Fremde und such nach Salmidon, dem Weisen im Magischen Reich. Er wird dir Rat geben!“
Der Sohn spürte die innige Umarmung seines Vaters noch immer. Von nun an war der König von Tandonay völlig apathisch und kraftlos geworden. Später verfiel er der Krankheit der tiefen Traurigkeit.
Was war denn nur damals mit der Königin geschehen? Tahomo überließ sich ganz den leisen Bewegungen seines Luftschiffs und dachte nochmals über das rätselhafte Verschwinden seiner Mutter nach.
Tandonay war ein liebliches Land inmitten des Märchenreichs. Sein Herrscher lebte mit dem Prinzen und seiner Frau Naomi in Frieden und Fröhlichkeit. Er liebte die Königin und seinen Sohn Tahomo von ganzem Herzen. Sie waren, neben dem Glück seines Volkes, das Wichtigste in seinem Leben. Und so blühte Tandonay, umschlossen von schützenden Bergen, in Frieden und Geborgenheit.
Eines Tages jedoch, als Tahomo noch ein Knabe war, geschah etwas Schreckliches: Bei der festlich gedeckten Abendtafel wartete man länger als gewöhnlich auf Königin Naomi. Plötzlich flog die Tür zum Saal auf. Herein sprudelten Hofdamen in weiten, bunten Kleidern. In ihrer Aufregung sahen sie aus wie liebliche Blüten, die der Wind über eine Wiese bläst. Der König musste oft über die ausgelassenen und stets fröhlichen jungen Frauen lachen, doch heute lachte er nicht. Sein Herz spürte Gefahr und er richtete seine Augen ernst und prüfend auf die Hofdamen.
„Wir können die Königin nicht finden!“, rief die erste der Damen. Eigentlich war sie für ihre stete Zurückhaltung bekannt, doch jetzt schien sie außer sich zu sein. „Vor einer Stunde bereits haben wir sie gesucht. Wir haben gerufen, doch keine Antwort kam – sie blieb verschwunden! Bis jetzt haben wir gesucht.“
„Wer sollte heute ihre Gefährtin sein?“ Der König erhob sich bedrohlich.
„Ich!“ Die jüngste der Damen schritt unsicher auf ihn zu. Dann begann sie leise zu erzählen: „Wir spazierten im Park …“
„Sprich lauter, erzähle uns alle Einzelheiten!“, befahl ihr Gebieter erregt.
„… da sahen wir, dass ein wunderschöner, aber ungewöhnlich großer Vogel über uns langsam in weiten Kreisen flog. Sein Gefieder schimmerte in allen Blautönen. Er hatte an den Spitzen seiner gewaltigen Flügel einen kleinen Saum silberner Federn. Der Schweif aber – mein König, stellt Euch zarteste, tanzende und noch dazu vielfarbige