In den Tiefen des magischen Reiches. Hannelore Nissen
Seite ein anderes Gesicht. Ständig kontrolliert er jede Himmelsrichtung und mir wird klar: Falls sich je ein Geschöpf hierher verirren sollte, um Naomi zu helfen, so würde dieses Ungeheuer mit seinen kräftigen Armen große Steinbrocken nach ihm schleudern. An ihm kommt niemand vorbei.
Als ich wieder zu der Unglücklichen in die tiefe Schlucht schaue, entdecke ich, wie ein äußerst hässliches Wesen auf sie zuschleicht. Es scheint halb Mensch, halb Tier zu sein. Glatzköpfig, mit langer Hundeschnauze, scheußlich abstehenden, fleischigen Ohren und dickem Bauch tappt dieser sonderbare Kerl vorsichtig auf dünnen Beinen der Gefangenen entgegen. Aus irgendeinem Grund hält er die Augen geschlossen, doch seine dicken Krallenfüße finden den Weg sicher. Ständig bleibt er stehen und richtet seine großen Ohren auf, um sie nach dem kleinsten Geräusch zu drehen. Auch die Flügel seiner knubbligen Nase bewegen sich und ich kann hören, wie er die Luft um sich tief einsaugt. Sollte ein Retter Naomi hier zu Hilfe kommen wollen, so würde er ihn schon von Weitem wittern.
Noch ist die Königin abgelenkt. Noch hat sie ihn nicht erblickt. Ganz offensichtlich prüft sie Felsspalten, um irgendwo einen Weg zur Flucht zu finden.
Auch wenn die Augen der hässlichen Kreatur noch immer geschlossen sind, bleibt ihr anscheinend nichts verborgen. Auf irgendeine Weise nimmt sie alles, aber auch alles wahr, denn da höre ich schon ihre rostig krähende Stimme kreischen: „Halt! Nicht weiter, bleib ßtehen, mein ßätzzchen, ßonßt wird eß dir schlecht ergehen und daß wollen wir doch nich!“ Und während es spricht, blickt dieses Ungeheuer scheinbar völlig teilnahmslos in eine andere Richtung. Gegen diesen Bewacher hat man keine Chance. Er ist unberechenbar, aber auch gefährlich und launisch!
Obwohl ich die Königin als Gefangene in dieser tiefen Schlucht sehe, kauert Naomi zugleich immer noch neben mir, hoch oben, am Rande der abfallenden Felsen, und ich frage leise: „Ist dein Bewacher ein Untertan von Zedon?“ Wenn ich ihr helfen soll, so muss ich alles, was hier geschieht, verstehen.
Naomi nickt.
So ein komisches Wesen habe ich noch nie gesehen: Über seinem dicken Leib trägt es einen Rock, der bei jedem Schritt hin und her schwingt. Mit den fetten, fleischigen Pranken streicht es ständig die Falten glatt. Ja, dieses eigenartige Geschöpf ist zweifellos eitel! Langsam tappt es an Naomi vorbei, ohne sie anzusprechen.
Was tut es denn jetzt? Fasziniert schaue ich weiter in den Abgrund. Dieser Hässling hebt plötzlich seine abscheulich dicken Füße. In eigenartigem Takt patschen die Krallen auf den Felsenboden … vor … und zurück, dann sich heftig drehend wie ein Kreisel! Aus seinem Maul höre ich krächzenden Gesang: „Ich bin ßo ßöhöön“, grunzt der Hässling völlig selbstvergessen. „Ich bin eine Elfe, eine Eeelfeee!“ Dabei schwingen seine Hüften … rechts, links, rechts, dass sein Faltenröckchen nur so wippt. Offensichtlich hat er einen wilden Gefallen daran.
Aus Nischen und Pfützen der Schlucht eilen ihm kleine Zauberwesen mit Mäuse- oder Drachenkopf entgegen. Die tragen ebenfalls Röcke. Eines mit Ziegenkopf hält sogar einen Sonnenschirm in seiner dürren Kralle. Auch die beginnen ganz grässlich zu kreischen: „Du, unser Anführer, bist sooo schön, wir sind auch so schööhön, wir alle sind Eeelfeeen so zahart, so liiiieblich …“
Da werde ich von einer Bewegung der gefangenen Königin abgelenkt. Was tut sie da? Sie schleicht ganz vorsichtig zu einer schmalen Felsspalte. Wahrscheinlich glaubt sie, die Kreaturen seien in ihrem Tanz unaufmerksam.
Doch welch ein schlimmer Irrtum! Ihr tanzender Bewacher erstarrt schlagartig. Er holt tief Luft, bläst seinen dicken Bauch auf und dann hört man einen alles durchdringenden, furchtbaren Schrei. Der will und will nicht enden; er gellt wie ein Alarm aus vielen Sirenen. Sofort rennen die kleinen Ungeheuer zu der Königin, die noch immer eine Felsspalte sucht. Ich erlebe von meinem Platz aus, wie die Kreaturen vor Hohn laut lachen, wie sie wild um sie herumtanzen. Naomi schreit auf, doch noch lauter kreischen ihre Peiniger: „Sie will fliiiieheen, aaaach, sie will fliiiehen!“ Sie kneifen und stoßen sie und jetzt ziehen sie die wehrlose Königin mit sich …
Da schwindet dieses furchtbare Bild vor mir und es erscheint ein anderes. Der Hässling stößt die Königin vor sich her in einen Schlosshof hinein. Die anderen Kreaturen tanzen dort bereits um eine schwarz gekleidete, hohe Gestalt herum und schreien: „Fliehen wollte sie, großer Zedon … Wir haben es verhindert!“
Zedon? Das also ist der große Zauberer? Zum ersten Mal sehe ich ihn. Wie eine Statue steht er bewegungslos und mächtig vor seinem Schloss. Sein dunkler Mantel verhüllt den Körper, die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Aus der Bewegungslosigkeit heraus beginnt er jäh zu schreien: „Die Zeit der Schonung ist für dich vorbei! Ich verlange, dass du mir ab sofort als meine Frau angehörst! Ab sofort!“ Er beendet seinen Befehl mit den knappen Worten: „Du hast keine Wahl!“
Ratlos sehe ich zu Königin Naomi. Sie steht aufrecht in diesem Schlosshof und spricht ganz leise: „Ich verweigere deinen Befehl, Zedon, auch wenn das meinen Tod bedeuten sollte. Niemals werde ich meinem Mann, dem König von Tandonay, untreu. Ich gehöre zu meiner Familie!“
Ruckartig schnellt ein Arm aus Zedons dunklem Umhang. Seine Faust richtet sich gegen die Gefangene. Kalt und erbarmungslos fallen jetzt seine Worte wie die Schläge eines Hammers auf Naomi nieder: „Der König von Tandonay ist tot! Dein Sohn ist für immer verschwunden!“
Die Königin zuckt kurz zusammen. Dann steht sie wieder, still und unbewegt, wie gelähmt. Woher nur nimmt sie die Kraft für ihren Stolz?
Ich spüre ein leichtes Streichen über meine Augen. Es ist Naomis Hand. Sie sitzt wieder neben mir auf der Sommerwiese, hebt den Zeigefinger an ihre Lippen und deutet zu Gerard. Er schläft noch immer. Dann flüstert sie mir zu: „Das war der Moment, als Zedon furchtbare Rache beschloss … Rache beschloss. Wenn er mich nicht haben konnte, so sollte ich Tandonay niemals wiedersehen … niemals wiedersehen. Ich erinnere mich nicht, wie es geschah, doch als ich wieder klarer denken konnte, war ich in eine dunkle Gestalt verwandelt … verwandelt und Zedon verbannte mich … verbannte mich in das schwarze Moor. So laut ich auch rufen würde, keiner könnte mir helfen … keiner mir helfen. Schlimmer noch, ich wäre für alle Zeit zur Einsamkeit verdammt … verdammt, denn ich würde das Moor niemals lebend verlassen können!“
„Du bist die …“ Jetzt begreife ich, wage es aber nicht auszusprechen.
„Ja, ich bin die undurchschaubare Düstere Königin des Moores … Königin des Moores!“
„Naomi, ich verstehe nicht, das Märchen der Düsteren Königin habe ich vor Kurzem meinen Enkelsöhnen erzählt und nun kommst du zu mir als … oder träume ich wieder?“
„Du träumst nicht! Deine Fantasie hat eine Brücke von euch Menschen auf dem Blauen Planeten zu uns in die Märchenwelt geschlagen … Brücke in die Märchenwelt. Als mir Zedon entgegenschrie, mein Mann, der König von Tandonay, sei tot und mein Kind verschwunden … verschwunden, als ich nicht wusste, ob jemand meinem Sohn in seiner Einsamkeit beistehen würde … Einsamkeit … war meine Qual am allergrößten … meine Qual … Da habe ich dich gehört, da habe ich dich gespürt. Versteh, du hast deinen Enkelsöhnen die Geschichte von meinem Sohn erzählt … von meinem Sohn … Nur deshalb ist es mir möglich, mit dir Verbindung aufzunehmen … nur deshalb. In deinem Märchen hast du ihm ein leuchtendes Schiff gegeben, mit dem er fliehen konnte … in deinem Märchen. Nun bin ich hier, um dich zu fragen: Hast du den Mut, uns zu helfen … den Mut … zu helfen?“
Ich überlege nicht einen Moment: „Ja, Naomi, ich werde alles tun, was mir möglich ist!“
Da fühle ich ihre Hand an meinem Arm. „Hier, nimm das … nimm das!“, spricht sie hastig. Sie will mir etwas geben, doch urplötzlich ist diese Berührung vorbei.
„Warum antwortest du mir denn nicht?“ Gerards Stimme klingt ungeduldig, ja scheint bereits etwas beleidigt.
„Ich habe dich nicht gehört, was hast du gefragt?“
Ich setze mich auf. Das Wesen neben mir ist verschwunden. Langsam streicht meine Hand über die Stelle meiner Decke, an der ich eben noch das weinende Geschöpf gespürt habe. Fantasiere