In den Tiefen des magischen Reiches. Hannelore Nissen
Mika, Philipp und Jona fahren.“ „Du hast wohl schon wieder Lust auf deine wilden Enkelsöhne?“, lache ich.
Nun ist Gerard, den die Kleinen Gerard-Opi nennen, wieder einig mit mir. Er erhebt sich und legt die Decke zusammen, auf der wir gelegen haben. „Hier liegt eine Kette im Gras, ist das deine?“, fragt er mich. Dann geht er zum Auto.
Tatsächlich, dort liegt eine Kette! Sie sieht kostbar aus! Das kann doch kein Zufall sein … Naomi wollte mir etwas reichen, ehe sie verschwand. War es dieser Schmuck? Ich suche mit den Augen die Sommerwiese ab. Wo ist Naomi? Ich muss sie finden … Ich muss ihr helfen. Doch da ist keine Spur von ihr. Gerard ruft und so lege ich diese Kette schnell um meinen Hals und verschließe sie ganz fest.
Ob ich dieses seltsame Erlebnis meinen Enkelsöhnen erzählen soll? Werden sie sich nicht fürchten vor der Andeutung Naomis, dass ich mit unserer Geschichte ein Band zu ihr in die Märchenwelt geschlungen habe?
„Nein … Was habe ich nur für Gedanken!“ Ich bin mir jetzt sicher, dass ich – wie Gerard – eingeschlafen bin. Geträumt! Ja, kann nur so sein. Ich habe von meiner eigenen Geschichte geträumt.
Und die Kette, die im Gras lag?
Die hat jemand verloren, ich werde sie im Fundbüro abgeben. Das alles hat einen ganz normalen Hintergrund … Ach, ich habe einfach zu viel Fantasie! Nächste Woche bin ich wieder bei meinen Kleinen. Da kann ich meinen Traum ja gut als neustes Kapitel erzählen!
Hmm! Der Traum … Er geht mir nicht aus dem Kopf … Eine Kette im Gras?!
6. Kapitel
Lange hat mich mein Traum von der gefangenen Königin Naomi beschäftigt. Ich entschließe mich, all das aufzuschreiben, um es meinen Enkelsöhnen wieder erzählen zu können. Als ich in meinem großen Sessel sitze und den Laptop auf die Knie nehme, spüre ich, dass Märchengestalten um mich sind. Anscheinend voller Vertrauen kommen sie nach und nach zu mir. Es ist, als ob in meinen Gedanken ein abenteuerlicher Film abläuft. Ich schreibe und schreibe alles, was geschieht.
Nachdem sie das Meer hinter sich gelassen hatten, flog das leuchtende Boot mit Tahomo weiter und weiter in die höchsten Höhen eines Hochgebirges. Vorn, am Bug des Schiffes, blickte die bunte Galionsfigur aufmerksam in die Ferne.
Tahomo schrie gegen den Fahrtwind an: „Sag mir: Was war das für eine gefährliche Welle, als wir noch über dem Meer flogen? Sie hat uns fast zerschmettert! Ein Glück, dass wir so nah am Land waren!“
Sofort sprudelte das singende Band kreiselnd in die Lüfte. „Du hast einen bösartigen Feind“, sang diese Schrift. „Er versucht, dich zu verderben, denn du bist die größte Gefahr für ihn.“
„Wer ist dieser Feind?“
„Er nennt sich Zedon, der große Zauberer. Immer wieder wird er versuchen, dir zu schaden! Sei achtsam, Prinz von Tandonay!“
„Was kann ich gegen einen Zauberer ausrichten? Sag es mir, wenn du eingeweiht bist, mein liebes Boot!“
„Du hast einen großen Beschützer! So viel darf ich dir verraten. Und auch das Wichtigste: Es gibt in einer anderen Welt, auf dem Blauen Planeten, Freunde für dich, die dir helfen werden. Du kennst sie nur noch nicht!“
„Freunde …“, wiederholte Tahomo leise. Aber wo waren die? Seine Lage schien ausweglos und er fühlte sich einsam, obwohl ihm das singende Band soeben noch Mut zugesprochen hatte.
Da … ein fauchendes Rauschen von starken Schwingen. Hoch über sich sah der Junge einen großen, schwarzen Raubvogel auf sich zufliegen. Er erschrak vor den scharf blickenden Augen des Tieres, die ihn wie erstarrtes, kaltes Glas anstierten. Diese Augen hatten ihr lebendiges Ziel längst entdeckt. Sie hielten ihr Opfer im Flug sicher im Visier.
Der Prinz duckte sich instinktiv. Jetzt bremste das gewaltige Tier über Tahomo ab und streckte seine scharfen Krallen nach ihm aus. Der Vogel packte ihn und schwang sich kreischend im Sturzflug steil abwärts, sodass das Luftschiff unmöglich folgen konnte. Der Prinz wehrte sich mit all seiner Kraft gegen die schmerzhafte Umklammerung, doch hatte er keine Chance.
Erst als der mächtige Vogel über seinem Horst schwebte, lockerte er seinen festen Griff und ließ den Jungen in das große Nest fallen. Der sah sich schnell um. Das Geflecht war mit groben Ästen zusammengehalten. Neben ein paar Federn und alten Resten von Fleisch, die wahrscheinlich noch vom letzten Raubzug übrig waren, war er hier allein.
Der große Vogel schwang sich bereits wieder durch die Lüfte. Der junge Prinz wusste nur zu gut, dass er ein Abgesandter des großen Zauberers, seines Feindes, war. Wahrscheinlich flog der Raubvogel zu ihm, um eifrig zu berichten, dass er den Verfolgten endlich gefangen habe.
Er kletterte, so schnell er konnte, aus dem Horst. Es war ihm vollkommen egal, dass er sich auf den schmalen Gebirgsgraten in Gefahr brachte, und auch, dass die groben, spitzen Äste des Horstes seine Haut zerkratzten. Wenn er fliehen konnte, so musste das sofort geschehen. Schnell und behände setzte der Junge seine Füße auf Felsvorsprünge. Sie boten ihm Halt für seinen steilen Abstieg aus dieser gefährlichen Umgebung.
Oh, wäre er nur etwas vorsichtiger gewesen. Plötzlich kamen die Füße des Prinzen ins Rutschen. Mit der Last seines gesamten Körpers fiel er ungebremst auf einen Teppich scharfkantiger Steine. Durch die Wucht des Aufpralls aber geriet diese Masse in Bewegung und entwickelte sich unglücklicherweise zu einer Geröll-Mure. Auf ihr glitt er unaufhaltsam und schnell talwärts. Tahomo überschlug sich und stieß gegen scharfe Gegenstände, doch sein schwindendes Bewusstsein konnte bereits nichts mehr wahrnehmen. Er verlor die Besinnung.
„Bist du endlich gekommen, mein lieber Freund …“
Der immer noch benommene Junge spürte eine kleine, raue Hand, die seine Stirn, dann seinen Kopf zärtlich streichelte. Nein, das war nicht die ersehnte, weiche Hand seiner Mutter und es war auch nicht ihre Stimme.
„Endlich habe ich die Möglichkeit, dir in deinen Qualen zu helfen.“ Wieder dieses raue, liebevolle Streicheln.
Der Prinz schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht eines kleinen, hutzeligen Männleins. Was ihm sofort auffiel, war, dass dieses Männlein ein rotes und ein grünes Auge hatte; doch diese sahen ihn voller Güte an. Tahomos Vater hatte ihn gelehrt, den Ausdruck von Augen zu deuten, und so fasste der Prinz sofort Vertrauen in dieses kleine Wesen.
Vor ihm stand ein Geschöpf mit breitem Buckel. Eigenartig, wie er mit Arm und Hand eine kleine Tasche sorgsam, ja fast ängstlich an seinen Oberkörper drückte. Die andere Hand streichelte den Prinzen noch immer. Das Männlein hatte duftende Kräuter auf die vielen Wunden seines Körpers gelegt. Sie bewirkten, dass Tahomo keinerlei Schmerzen spürte; mehr noch, seine Wunden heilten zusehends.
„Komm, stütz dich auf mich, ich trage dich in mein Haus. Dort kann dich der schwarze Raubvogel nicht finden“, sprach das Männlein und zog den Körper des Jungen vorsichtig auf seinen Buckel.
Als sich der kleine Kerl erhob, um seine junge Last wegzutragen, erblickte Tahomo die roten Strümpfe und die verschiedenen Schuhe an den Füßen. Wo hatte er sie schon gesehen? Die kurzen, aber viel zu weiten Hosen des hutzeligen Männleins waren ihm von irgendwoher bekannt …
Ächzend trug sein Helfer ihn über Gebirgspfade hinweg, bis sie nach einiger Zeit des Dahinstolperns zu einer seltsam windschiefen Hütte kamen. „Dort steht mein Zuhause!“, erklärte ihm sein neuer Freund.
In diesem Moment erkannte der Prinz seinen Retter. Ja, jetzt fiel es ihm ein: Er war dem kleinen Wesen bereits begegnet. Es hatte sich tief vor ihm verbeugt, als Tahomo mit dem leuchtenden Boot über ihn hinweggeflogen war.
„Woher kennst du mich?“, fragte er ihn.
„Salmidon, der Weise im Magischen Reich, hat dich mir angekündigt. Ich soll dir auf deinem Weg eine bestimmte Hilfe geben.“
„Salmidon, du kennst Salmidon