In den Tiefen des magischen Reiches. Hannelore Nissen

In den Tiefen des magischen Reiches - Hannelore Nissen


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und wieder ließ der Vogel über der Königin eine silberne Feder fallen und dann war es, als ob wir leises, metallenes Klingen hörten. Es tönte wie ein Glockenspiel. Königin Naomi haschte nach den klingenden Silberfedern und lachte. Sie lief immer weiter und wollte den großen Vogel näher beobachten. Wir haben ihn hier noch nie gesehen!“ Und weiter schwärmte die Hofdame: „Der Schwung seiner Flügel war so … Wie soll ich Euch erklären, mein König, was jetzt geschah? Die ganze Erscheinung war so harmonisch … auch so majestätisch … Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir beide, die Königin und ich, ihm zuschauten und uns dann eine große Müdigkeit überfiel.“ Hier unterbrach die junge Frau, wurde für einen Moment still und senkte ihren Kopf. „Als ich aufwachte, war Königin Naomi verschwunden. Ich habe gesucht, glaubt mir … Dann habe ich gedacht, sie sei allein zum Schloss zurückgegangen, doch dort war sie nicht angekommen!“

      Die Gesichtszüge des Herrschers von Tandonay verfinsterten sich. „Schickt meine Späher sofort in alle Himmelsrichtungen aus!“, befahl er daraufhin donnernd. Er selbst sattelte seinen Schimmel, um die geliebte Frau zu suchen. Alle, der gesamte Hofstaat, das ganze Volk von Tandonay, suchten. Vergebens!

      Königin Naomi war nie wieder zurückgekehrt. Nie wieder hatte Tahomo die sanft streichelnde Hand der Mutter auf seiner Haut gespürt. Diese Erinnerungen taten weh.

      Ganz in Gedanken versunken lag Tahomo noch immer reglos auf dem Boden des Luftschiffes. Jetzt wischte er mit seinem Handrücken die Tränen ab und verharrte noch eine kurze Weile in diesen Bildern. Dann erhob er sich, denn eine innere Unruhe trieb ihn. Der junge Prinz nahm sich vor, die Suche nach der Mutter niemals, niemals aufzugeben.

      Das leuchtende Schiff war indessen über das Meer weiter und immer weiter geflogen. Als Tahomo diesmal über die Reling schaute, erblickte er in der Ferne einen schmalen Uferstreifen. Langsam senkte sich das Boot und setzte zur Landung an. Doch woher kam dieses gewaltige Donnern? Der Prinz schaute sich um und erschrak zutiefst. Eine haushohe Welle rollte brodelnd vom Meer aus auf ihn zu. Gleich würde sie das gesamte Schiff mit seiner ungeheuren Kraft umherwirbeln und verschlingen.

       „Nun ist auch dieses Kapitel zu Ende, meine Kleinen!“

       „Oooooch!“, maulen beide.

       „Nächstes Mal, wenn ich zu euch komme, ist ganz sicher das nächste Kapitel fertig!“ Meine Hände streicheln das blonde und das braune Haar der Enkelsöhne. „Nichts wird verraten … Geheimnis!“, foppe ich und wir lachen.

       Eine lustige Woche lang waren die beiden bei ihrem Gerard-Opi und mir zu Besuch. Morgen fahren sie wieder nach Hause.

       „Kommt ihr uns dann bald besuchen, Omama?“

       „Logo und klaro, mein Philipp!“

       Da ist er zufrieden.

      5. Kapitel

       Heute sind unsere Enkelkinder wieder zu ihren Eltern gefahren. Mit Gerard liege ich auf einer Sommerwiese. Es ist warm. Wir hatten Lust auf Picknick und sind einfach losgefahren. Jetzt sind wir müde. Es schnarcht ganz leise neben mir.

      Plötzlich spüre ich, dass mein Arm berührt wird, ganz zart, es kitzelt! Wahrscheinlich ein Insekt. Schnell verjagen, ich habe Angst vor Stichen. Aber … das ist kein Insekt. Ich stoße mit meiner Hand an etwas Festes, etwas Größeres. Vor Schreck ziehe ich sie schnell zurück und öffne meine Augen. Ganz nah neben mir kniet eine unbekannte Frau und sieht mich an. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig. Lange schwarze Haare fallen von ihren Schultern herab auf meinen Arm. Sie trägt ein Kleid, das ich hier noch niemals sah. Es ist ein wunderschönes Gewand aus blauen Schleiern – ganz sicher ist sie nicht von hier!

      Da spricht sie mich an: „Hab keine Angst … Vor mir brauchst du niemals Angst zu haben … niemals Angst zu haben … Angst!“

      Oh, diese leise, etwas hallende Stimme mit dem Echo … Ich kenne sie doch.

      Sanft legt die Unbekannte ihre Hand auf meine Schulter. „Ich bitte dich um deine Hilfe … deine Hilfe … bitte!“

      Genauso hat das Wesen mit den glühenden Augen zu mir gesprochen. Neulich ist es nachts bei mir erschienen und hat mich mit dieser sanften Stimme gerufen. Das war also doch kein Traum … Vollkommen verwirrt schaue ich sie an und da fällt mir auf, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen. „Wer bist du?“, flüstere ich, um Gerard nicht zu wecken.

      „Ich bin Naomi. Einst war ich die Königin von Tandonay … Tandonay.“

      „Tandonay?“, wiederhole ich und bin erstaunt. Das Land Tandonay habe doch ich erfunden, in meiner Geschichte für Philipp und Mika. Wie kann das sein? Gibt es das wirklich? Und ich frage Naomi: „Wo liegt es, ich habe nie davon gehört.“

      „Tandonay ist ein friedliches Land … Land in der großen Welt der Märchen … Märchen. Zedon, ein Zauberer, entführte mich von dort … von dort … Er hält mich gefangen … Ich finde nicht mehr zurück und brauche Hilfe … brauche Hilfe!“ Sie spricht immer aufgeregter und dann höre ich verzweifeltes Schluchzen.

      „Wie kann ich dir denn helfen, Naomi? Sag es mir.“

      „Um das alles zu verstehen, muss ich dich einweihen … einweihen! Du musst wissen: Zedon, der Zauberer, hat vor langer, langer Zeit bei meinem Vater um meine Hand angehalten … angehalten. Er bot mir Schätze an, wenn ich ihn heiraten würde. Doch Zedons Charakter war so düster … so düster. Man fror in seiner Nähe, selbst wenn er lachte und freundlich tat … freundlich tat. Ich wollte um keinen Preis seine Frau werden … um keinen Preis …“ Dann wird Naomis Stimme leiser und weicher. „Ich liebte bereits den jungen Herrscher von Tandonay, wir hatten einander versprochen … einander versprochen … für immer zusammenzugehören. Dieser Mann hatte ein gutes Herz und hohen Verstand. Wie oft habe ich erlebt, dass er sich wie ein Vater für sein Volk verantwortlich fühlte … verantwortlich fühlte. Er war ein Mensch mit edlen Idealen. Strahlend ist sein Bild, wenn ich an ihn denke. Ich wurde seine Frau … seine Frau.“ Naomi senkt ihren Kopf und spricht zunächst nicht weiter. Ihre Hoffnungslosigkeit ist deutlich zu spüren. Schließlich flüstert sie: „Nach einem Jahr bekamen wir einen Sohn … einen Sohn.“ Naomi schluchzt laut auf und klagt: „Nie … niemals waren wir glücklicher!“

      Da nehme ich die verzweifelte Königin in meine Arme, doch mir fehlen Worte, mit denen ich trösten kann. Ich weiß zu wenig, um helfen zu können. Eine Weile bleibt es still zwischen uns.

      Als sich Naomi ein wenig beruhigt hat, erzählt sie weiter: „Zedon hat meine Abweisung nie akzeptiert … nie akzeptiert. Warum habe ich nicht daran gedacht, dass er vielleicht Rache nehmen könnte … Rache. Lange geschah nichts und ich vergaß den Zauberer … vergaß. Doch eines Tages war die Zeit für ihn reif. Er … er hat nicht vergessen, sein abgewiesenes Werben um mich nie verwunden … nie verwunden. Und dann kam der Tag, an dem Zedon mich aus Tandonay raubte … aus Tandonay raubte! Er bediente sich einer List und verschleppte mich in sein düsteres Reich … verschleppte mich!“

      „Erzähl mir genau, Naomi, wie konnte das geschehen? Wo brachte er dich hin?“

      „Oh, er kannte mich gut … er kannte mich! Als Kind hatte mir mein Vater einst einen weißen Pfau geschenkt … weißen Pfau. Wie sehr hatte ich den geliebt. Viele Jahre war er mein Spielgefährte gewesen … mein Spielgefährte. Das wusste Zedon und jetzt sandte er mir einen ähnlichen, einen großen, eleganten Vogel, der mich sofort faszinierte und lockte … lockte. Ja, ich war unvorsichtig und lief ihm hinterher. Ich ahnte ja nicht, dass ich entführt werden sollte … ahnte ja nicht …

      „Wann hast du denn gemerkt, dass du entführt worden bist?“

      „Um dir das zu beantworten, muss ich dich in eine andere Wirklichkeit führen … andere Wirklichkeit!“ Naomi streicht mit einer Hand ganz leicht über mein Gesicht und spricht dabei: „Sieh, wohin er mich gebracht hat … wohin!“

      Als sich die Hand Naomis von meinen Augen löst, sehe ich die Königin als Gefangene


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