Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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überhaupt keine für den Menschen unserer Zeit. Das, was gelöst ist, ist abgeschlossen, aber die kommende Umwälzung beginnt eben erst.“

      Bei diesen Sätzen traf ihn bereits eine Ahnung, weshalb diese Schrift in der DDR erscheinen durfte. Und als er weiter las, bestätigte sich diese Ahnung.

      Es hieß dort: „Wir bauen nicht auf, wir reißen nieder; wir verkünden keine neue Offenbarung, sondern räumen alte Lügen fort … bauen nur die Brücke – ein anderer Unbekannter, ein Mensch der Zukunft, wird über sie hinwegschreiten … Die Religion der zukünftigen Umgestaltung der Gesellschaft ist die einzige Religion, die ich dir vermache …“ Es war ganz klar, in welches historische Mäntelchen die Bonzen des Stalinismus sich täuschend zu hüllen gedachten, als sie diese Schrift öffentlich zuließen.

      Doch als die Sätze über den Menschen der Zukunft niedergeschrieben wurden gab es weder einen Lenin noch einen Stalin und natürlich auch keinen Walter Ulbricht mit Frau Lotte … Als er dann weiter und immer weiter las ließ ihn das Staunen darüber nicht mehr los, dass die DDR-Zensur offenbar nicht erkannt hatte, dass diese Texte das ganze verschrobene Machtgelüste der sozialistischen Großfunktionäre als zukunftsfeindlich entlarvten; wenn er in diesem Buch etwa über die Massen las: „… der persönlichen Freiheit, der Unabhängigkeit des Wortes gegenüber verhalten sie sich gleichgültig; die Massen lieben die Autorität … sie fühlen sich noch beleidigt durch den unabhängig dastehenden Menschen; sie verstehen unter Gleichheit eine gleichmäßige Verteilung des Jochs; aus Angst vor Monopolen und Privilegien blicken sie das Talent schief an und erlauben nicht, dass ein Mensch etwas anderes tut, als das, was sie tun. Die Massen wünschen sich eine soziale Regierung, die für sie regiert … sich selbst zu regieren kommt ihnen nicht einmal in den Sinn …“

      Natürlich, sagte Sebastian sich, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, na und das Volkseigentum und die Volksgerichte … Das Volk regiere sich ja bereits selbst wie man sehen könne. Und Herzen habe sie ja als die Menschen der Zukunft längst beschrieben und angekündigt, als Vollender der Französichen Revolution: So erkannten sich die Parteikader in Herzens Schriften als Befreier der Menschheit. Man stelle sich dazu nur mal den Spitzbart vor, ging es Sebastian durch den Kopf, Ulbricht als Befreier und Vollender der Menschheit … Von Stalin ganz zu schweigen.

      Dann wieder Herzen zum Kommunismus: „… kaum sahen die Massen die Morgenröte des ihnen Erlösung verheißenden Tages, so übersetzten sie die sozialen Lehren in eine andere viel rohere Sprache, sie machten den Kommunismus daraus, die Lehre von der erzwungenen Eigentumsentäußerung, die Lehre, welche das Individuum durch die Gemeinschaft aufhebt, welche an den Despotismus grenzt, indem sie vom Hunger emmazipiert …“

      Alles was dieser anarchische Schriftsteller in seiner Schrift darlegte, meinte Sebastian und blickte dabei durch’s Fenster hinaus in einen grauen Himmel, der dort schlaff wie ein schmutziges Laken hing, klagte den gegenwärtigen ‚Sozialismus‘ ja an. Er wusste von der Schrecklichkeit und Grausamkeit der Französischen Revolution, aber, sagte er sich, was ist das schon gegen die Unvorstellbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen und der nicht minder furchtbaren des Stalinschen Kommunismus in unserer Zeit.

      Die hohen Ideale eines Alexander Herzen erschienen ihm wie verwunschene Märchen aus einer längst vergangenen fernen Zeit.

      Schließlich legte er das Buch beiseite als einer aus der Zelle fragte, was an dieser Schwarte denn so Besonderes sei?

      „Ist doch immerhin ’ne Abwechselung“, sagte Sebastian. „Besser als immer nur unsere vollgestellte Rumpelkammer hier anzustarren.“

      Siegfried bestätigte diese Meinung. „Man müsste sich Bücher aussuchen können“, sagte er. Sebastian stimmte dem zu. „Klar, wenn die hier im Bau ’ne Bibliothek haben, könnte man ja mal nachfragen was die so alles auf Lager haben.“

      „Ich brauchte dazu ’ne Brille“, sagte der alte ‚Buntspecht‘.

      „Durch’s ville Lesen wird man bloß doof“, winkte sein Sohn verächtlich ab.

      „Das sind doch allet bloß so politische Schwarten, die se uns hier rinschmeißen.

      Aber damit locken se doch keen Hund nich hintern Ofen vor.“

      „Na, wenn wir bloß immer mal ’nen warmen Ofen hätten“, sagte Siegfried und betrachtete abfällig die paar Heizungsrippen neben der Tür, gegen die sich der alte Sawatzky auf seinem Hocker gerade wärmesuchend lehnte.

      „Is’ auch heute wieder scheißkalt in die Bude“, bestätigte Arno. „Dabei kann man sich ja hier nich’ mal richtig warmloofen in unsere’ dünnen Plünnen.“ Und er zerrte dazu demonstrativ an seiner abgewetzten Jacke. „Keen Wunder, dass man hier friert.“

      Und so zogen die Tage vorüber, ohne viele erinnerbare Spuren zu hinterlassen.

      Jeder neue Tag begann mit dem Wecken durch den schrillen Schrei der Stahlschiene, unten neben dem Kommandoleiterzimmer. Auch der Blick durchs Gitterfenster zeigte Tag für Tag das gleiche Bild: Stets das frühe graublaue Morgenlicht bei verhangenem Himmel und dazu die Scheinwerfer und Lampen die die weißgetünchten Mauern anstrahlten. Und überall der Schnee auf dem Hof und den Dächern des Krankenreviers und des Wachturms, Schnee der schließlich auch wie ein weißer Pelzkragen auf der Mauerkrone lag.

      Es kamen kalte Tage und die Gefangenen liefen in ihre Schlafdecken gewickelt durch die Zellen, Decken, die eigentlich akurat ausgerichtet auf den Betten hätten liegen müssen. Doch kein Schließer äußerte sich zu dieser Übertretung vorgegebener Ordnungsnormen, für die man genau so gut tagelang bei Wasser und Brot und ohne Strohsack in den ungeheizten Kellerarrest hätte geschickt werden können.

      Im Winter im Keller auf nackter Pritsche, da mochte das einschneidende gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Das wussten alle, auch die Anstaltsleitung. Aber ganze Zellenbelegungen in den Arrest zu schicken war wiederum nicht möglich, waren diese Kellerverliese doch lange schon ausgebucht und so übersah die Zuchthausobrigkeit diese ordnungswidrigen Vorgänge schlicht.

      Sebastian erinnerte sich, dass bei den Schikanen an heißen Sommertagen in den oberen Zellen, direkt unterm Dach, bei geschlossenen Fenstern die Luft knapp wurde. Gefangene gingen damals in den Kellerarrest, weil sie entweder die Fensterklappe spaltweit geöffnet hielten oder die Jacken in den überhitzten niedrigen Zellen nicht zugeknöpft trugen. Aber da war es wenigstens Sommer und auch in den Arrestzellen nicht eisig. Jeder wusste ja, dass bei den Protesten und Mörder, Mörder-Rufen aus den Fenstern damals, als auch Sebastian und Totila ihre Schüsseln gegen Tür und Fenstergitter geschlagen hatten, Gefangene massenhaft zu hohen Arreststrafen verurteilt worden waren. Das geschah im Frühjahr und jetzt war es Winter und weiterhin zogen Verurteilte in die immer mal wieder frei werdenden Arrestzellen. Wer Pech hatte war nun im Winter dran, immer in der Gefahr sich damit den Schaden fürs Leben einzufangen.

       Kapitel 16

      Eines Tages wurde der alte Sawatzky verlegt und Arno, der Sohn, blieb zurück.

      „Da wer’ ich mein Vadder kaum noch sehn“, kommentierte er die Trennung.

      Vom Kalfaktor erfuhr er, dass der Vater auf die andere Seite, also in eine der gegenüberliegenden Zellen verlegt worden war.

      Der Sohn winkte ihm durchs Fenster bei dessen täglichem Rundgang zu.

      Sebastian indes stieß sich am Wort „Verlegung“, als handelte es sich bei den Gefangenen nur um x-beliebige Gegenstände, die man dahin und dorthin legte und manchmal auch verlegte und nicht um lebende Menschen, mit ihren vielen differenten Schicksalen. Die Sprache, machte er sich klar, sagte schon viel über das Menschenbild eines politischen Systems.

      Zwei Tage später stand Martin mit seinem Bündel in der geöffneten Zellentür und bezog dann das Bett des alten Sawatzky.

      Martin Schüler erzählte auf Nachfrage, dass er von Beruf Elektriker sei und in Schwarzheide im Chemiekombinat gearbeitet habe. Verurteilt sei er wegen Totschlags zu zwölf Jahren Zuchthaus. „Ein Jahr ist ja schon rum“, sagte er grinsend. Als er


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