Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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waren die Insassen dahinter vor den Schließern nicht sicher. Schon das bloße Sitzen auf der Bettkannte konnte Folgen haben. Die verdüsterten Mienen mancher Wachposten ließen nichts Gutes erwarten. Vom Arrest über Schreibverbot bis zur Besuchssperre stand den Gefangenen alles offen. Rückwirkend fand er dennoch, sei die Zeit wie ein Nichts vergangen. Dabei zog sich jeder einzelne Tag unendlich langsam dahin. Und im Rückblick gabs dann nur wenige Anhaltspunkte. Doch tagtäglich musste jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde in stets wiederkehrenden Belanglosigkeiten durchlebt werden, die den Tag zerrissen und die Zeit stauten, um sie dann nur wieder träge dahinfließen zu lassen.

      Wenn Sebastian dabei an die noch vor ihm liegenden Jahre dachte hätte er eigentlich verzweifeln müssen. Doch seine Einsicht in die Janusköpfigkeit der Zeit schützte ihn gewissermaßen davor. Sich stets wiederholende Routineabläufe, denen er unterworfen blieb dehnten in der Wahrnehmung, das hatte er begriffen, die Minuten und Stunden der eben ablaufenden Zeit, während sie im Rückblick gerade deshalb verkürzt erschien. Dabei handelte es sich aber doch immer um ein und dieselbe Zeit. Die Stunden und Tage in steter Wiederkehr immer gleicher Ereignisse: Wecken, Zählung, Essen, Kübeln, Rundgang, Essen, Kübeln, Zählung, Einschluss … krochen also zäh’ dahin und rückblickend erschien dann ein Jahr wie im Augenblick vergangen. Ob aber die Qual des täglichen Einerlei durch den rückblickenden Eindruck von Zeitlosigkeit wirklich zu ersetzen war blieb dann wohl doch bloß so etwas wie eine psychische Fata Morgana. Aber ein jeder suchte halt Schutz vor dem Wegbrechen seiner ihm zugehörigen Zeit in erstarrender Monotonie.

      Nach der Verlegung nun auch des jungen ‚Buntspechts‘, war dafür ein Neuer mit seinem Deckenbündel vor der Brust in Sebastians Zelle eingezogen. Ein Arzt, Internist, wie sich bald herausgestellt hatte. Friedrich Sedlmayr, Anfang bis Mitte Vierzig schätzte Sebastian, war, soweit sich das seinen Auslassungen entnehnen ließ, im Gesundheitsbereich der DDR wohl so etwas wie ein höheres Tier gewesen. Viel war ihm darüber aber nicht zu entlocken. Verurteilt worden war er zu 12 Jahren Zuchthaus nach Artikel 6 der DDR-Verfassung. Seinen weiteren Erzählungen war zu entnehmen, dass er als sogenannter Reisekader medizinische Kongresse im Westen besuchen durfte. Offizielle Reisen von Funktionären und Wissenschaftlern in den Westen mussten stets von den entsprechend höheren Parteiinstanzen genehmigt werden.

      Sedlmayr sprach manchmal beiläufig auch von seinem Auto, einem weißen Wartburg-Cabrio, mit dem er, wie er erzählt hatte, auf der West-Autobahn einmal bei 150 Sachen von einem Porsche überholt worden war. Der Porsche-Fahrer, erzählte er weiter, habe seinen Wagen dann zurückfallen lassen, um den Wartburg interessiert zu betrachten, ihm kurz zuzunicken und wieder Gas zu geben. Sedlmayr lachte. „Da konnte ich dann doch nicht mithalten“, sagte er.

      „Wo ist denn dein Auto jetzt?“, konnte Sebastian es sich nicht verkneifen zu fragen.

      „Na weg“, antwortete der einst priviligierte Arzt, „beschlagnahmt als Tatwerkzeug.“, dazu lachte er wieder. „Ich habe damit niemanden umgefahren oder im Westen einen Unfall verursacht“, fügte er noch hinzu.

      „Tatwerkzeug? Welche Tat denn?“, wunderte Sebastian sich. „Ich dachte du durftest mit diesem Auto in den Westen fahren. Hast du jedenfalls gesagt.“

      „Stimmt ja auch“, bestätigte Sedlmayr, grinste leicht und lehnte sich auf seinem Hocker gegen die Wand zurück. In der Zelle war es kalt, einige hatten sich wieder ihre Decken umgehängt.

      „Aber 12 Jahre“, sagte Sebastian und wiegte dazu den Kopf. „Die haben dir Spionage angehängt oder?“

      Sedlmayr zuckte wieder leicht grinsend mit den Schultern. „Wenn man rüberfährt“, sagte er, „ist man dort nie alleine.“

      „Wie meinst ’n das jetzt?“, fragte Siegfried, der sich sonst ja selten einmischte.

      Sedlmayr sah diesen Siegfried an und schüttete leicht den Kopf. „Jeder wird dort beobachtet. Das ist doch kein Geheimnis. Du weißt nur nie wer’s gerade ist.

      Ich kam natürlich mit Westdeutschen ins Gespräch. Dazu war ich ja rübergefahren“, sagte er mit einer Handbewegung in den Raum. „Ich habe bei solchen Gelegenheiten neben fachlichem Austausch auch über die Situation unseres Gesundheitswesens gesprochen. Das konnte gar nicht ausbleiben. Aber im Ministerium, da hatte ich nicht nur Freunde“, fügte er nach einer Pause hinzu.

      „Und deswegen gleich zwölf Jahre?“

      „Ja, wie das so ist, auch mit guten Freunden …“, sagte der Arzt.

      Sebastian lachte. „Davon kann ich ein Lied singen“, sagte er. „Aber du warst doch auch in der Partei?“

      „Ja sicher“, sagte der Arzt, „das blieb nicht aus.“

      „Du warst aber kein Überzeugter?“, fragte Sebastian.

      Sedlmayr pustete durch die Lippen. „Was ist das schon, überzeugt …?“

      „Du hattest also nur ’n guten Posten im Sinn?“

      Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Wenn du’s so nennen willst?“

      Sebastian stand dort vor dem Arzt, der auf seinem Hocker saß und winkte ab.

      „Ich kann in dieser Richtung sowieso nichts nachvollziehen“, sagte er. „Aber für zwölf Jahre muss man dir schon was angehängt haben.“

      Über das Gesicht des Arztes huschte wieder ein Lächeln. „Ja natürlich“, sagte er, „staatsfeindliche Nachrichtenübermittlung.“

      „Nicht Artikel 6?“, wunderte Sebastian sich.

      „Na klar, Artikel 6! Was anderes gibt’s doch gar nicht.“

      „Was haste denn da für staatsfeindliche Nachrichten übermittelt? Ich hab’ so was überhaupt noch nie gehört. Nachrichtenübermittlung? Und nicht Arbeit für einen westlichen Nachrichtendienst?“

      Der Arzt schüttelte nur den Kopf.

      „Aber Nachrichtenübermittlung … Was heißt denn das? Was hast du da wem übermittelt?“

      „Tja, wie schon gesagt, über die Lage unseres Gesundheitswesens. Die Mangelwirtschaft in Gesprächen mit westlichen Partnern, aber außerhalb der offiziellen Verlautbarungen.“

      „Also du hast denen bloß die Wahrheit gesagt?“

      „Na ja, die Schönrednereien, das ist mir einfach zu sehr auf den Geist gegangen.

      Aber natürlich gilt das als Staatsgeheimnis“, fügte er hinzu. „Schließlich ist das hier alles nicht vergleichbar mit dem Westen. Das soll aber niemand wissen, denn das Gesundheitswesen der DDR wird ja immer ganz groß herausgestellt.

      Und meine Gespräche im Westen, also ich hab’ mit der Situation hier nicht hinterm Berg gehalten, hat man mir bei Gericht als Verrat angelastet. Ich hätte damit dem Klassenfeind bedenkenlos in die Hände gespielt und so weiter und so fort …“

      „Woher wussten die das?“, fragte wieder Siegfried. „Da hat dich doch einer angeschissen …“

      „Die da im Westen sind naiv, das hatte ich nicht genügend beachtet. Da haben welche meine Meinung weitergetratscht, natürlich ohne zu ahnen, welche Folgen das zumindest für mich haben konnte. Na ja, wir sehns ja jetzt.“

      „Aber du warst doch schon öfter drüben. Warum hast du da nicht schon was erzählt?“

      Sedlmayr lachte. „Stimmt“, sagte er, „aber wie es so schön heißt: Einmal ist immer das erste Mal.“

      „Wie konnten die dir bei der Stasi und vor Gericht die Anklage beweisen?“, fragte Siegfried.

      Sebastian schüttelte den Kopf. „Na sag mal, so doof kannst du doch nicht sein.

      Die müssen dir doch nichts beweisen. Du musst denen beweisen, dass ihre Anklage nicht stimmt. Doch das gelingt kaum jemandem. Versuch das mal bei der Stasi. Nach tagelangem Schlafentzug weißt du nicht mehr, was du eigentlich wolltest …“

      „Da ist schon was dran“, meldete der Ex-Bezirksboxmeister im Mittelgewicht sich nach längerem


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