Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


Скачать книгу
eine Pistole hernehmen?“, fragte der Arzt.

      „Wieso ’ne Pistole?“

      „Die hast du doch von mir gewollt.“

      „Ich?“, fragte Sebastian, „das glaube ich nicht“, und er schüttelte ungläubig den Kopf.“

      „Ich sehe schon“, sagte der Arzt, „es scheint fast, als wärst du erst mal über ’n Berg …“ Sebastian stand in seiner langen Unterhose mit schweißnassen Haaren hohläugig schwankend vor dem Arzt, der auf einem Hocker saß, und hielt sich dabei mit einer Hand am Tisch fest.

      „Pistole? So’n Unsinn“, sagte er dann. „Die Kommunisten, die Schweine“, schimpfte er schließlich so laut, dass man es durch die Tür bis auf den Gang draußen hätte hören müssen, „diese Verbrecher, die sind schuld …!“

      „Nun mal nicht so laut“, mahnte der Arzt. „Du musst auch schnell wieder ins Bett“, fügte er hinzu, „das ist noch längst nicht vorüber.“

      „Leisetreter!“, giftete Sebastian und sah dazu den Arzt an.

      Der grinste nur.

      Und im Bett schwanden Sebastian, nach einem wiederholten Fieberschub, erneut die Sinne.

      „Der kämpft immer noch mächtig“, erklärte der Arzt den andern beiden in der Zelle.

      „Ist das wirklich so gefährlich?“, fragte Martin, der Boxer.

      „Und ob!“, nickte der Arzt.

      „Wird ers schaffen?“, fragte nun auch Siegfried besorgt.

      Sedlmayr nickte wieder. „Unter optimalen Verhältnissen wie in einem Krankenhaus durchaus. Aber hier? Ich hoffe es natürlich“, fügte er hinzu. „Seine Jugend ist der einzige Verbündete.“

      „Und natürlich du …“, wandte der Boxer sich an den Arzt.

      Der lächelte etwas verlegen und zuckte mit den Schultern. „Was kann ich hier schon machen? Ihr seht ja wie die auf meine Mahnung reagieren. Der Kommandoleiter, dieser Wollny, weiß halt besser was lebensgefährlich ist und was normal …“

      „Und wenn der hier draufgeht?“

      „Herzversagen“, antwortete der Arzt. „Das kennt man doch.“

      „Na ich weiß nicht, ich kannte das nicht“, erklärte der Boxer.

      Der Arzt zog Schultern und Augenbrauen hoch, wies dem Boxer und Siegfried die offenen Handflächen. „Aber ihr habts doch mitgekriegt“, sagte er dann.

      „Meine Meinung gilt hier nichts.“

      „Da gibts doch den ärztlichen Eid“, warf der Boxer ein.

      „Ja richtig, aber was soll ich unter diesen Verhältnissen machen?“

      „Eine Beschwerde mit Hinweis auf die Situation und deinen ärztlichen Eid nach Berlin schicken“, schlug der Boxer vor.“

      Der Arzt lachte kurz. „Wenn die das überhaupt zur Kenntnis nehmen würden, dann lassen die so viele Gegenzeugen aufmarschieren, dass ich am Ende noch als Verleumder dastehe.“

      „Aber wenn der draufgeht?“, und der Boxer wies dazu auf Sebastian.

      „Das wäre dann wieder eine andere Situation“, erklärte der Arzt.

      „Aber weißt du“, sagte der Boxer nachdenklich, „so eine Geschichte wie jetzt hier und dazu ausgerechnet noch ein Arzt auf der Zelle? Also das, denke ich, wird’s nur ganz selten geben.“

      Auch der Arzt nickte nachdenklich. „So’n kräftiger gesunder Kerl wie der“, sagte er, „der bringt schon einiges an Widerstandskraft auf. Wenigstens wollen wir das hoffen.“

      Erst am Abend kam Sebastian wieder zu sich und als er die Augen öffnete, sah er ins Gesicht des Arztes, der sich über ihn gebeugt hatte.

      „Brauchst du noch ’ne Pistole?“, fragte der grinsend.

      Da lief dann auch ein schwaches Lächeln über Sebastians blasses, verschwitztes und eingefallenes Gesicht. „Ich erinnere mich an das mit der Pistole und dem Gift“, sagte er. „Ich war aber im Moment davon überzeugt, du hast so was. Nur das mit dem Schlüssel vom Giftschrank, also da wurde mir plötzlich klar, du nimmst mich auf den Arm. Das hat mich natürlich geärgert, vor allem weil das großer Quatsch von mir war, ’ne Pistole und Gift.“

      „Du warst nur teilweise bei Sinnen“, erklärte der Arzt, „so ein Zwischenzustand …“

      „Ja, einerseits habe ich daran geglaubt und andererseits auch gewusst, dass das Unsinn war, also dieser blöde Einfall. Da war mir’s peinlich. Aber mir war es plötzlich wirklich so vorgekommen, als sei ich ein Krüppel geworden mit so einer vorgewölbten Hühnerbrust. So habe ich’s jedenfalls gefühlt.“

      „Du warst eben nicht ganz da, das gibt es“, sagte der Arzt. „Und ganz schön ramponiert siehst du auch aus …“

      „Es kommt mir vor, als ob ich abgenommen habe“, und Sebastian fühlte unter den Decken seine Brust ab.

      „Hast du auch“, bestätigte der Arzt. „Die ganze Geschichte hat dich ein paar Kilo gekostet. Das Wasser lief ja nur so. Du hast auch ein richtig spackes Gesicht bekommen und müsstest dich mal im Spiegel sehen.“

      „Bloß gut, dass wir hier keinen haben“, sagte Sebastian.

      „Zeig mal dein Handgelenk“, forderte der Arzt den Bettlägerigen auf. Er fühlte Sebastians Puls und starrte dabei zum Fenster hinaus. „Siebzig“, sagte er. „Ist nicht viel, aber in Ordnung …“ Dann legte er die Hand auf Sebastians Stirn.

      „Fieber natürlich auch nicht mehr …“

      „Warum natürlich?“, fragte Sebastian.

      „Na weil bei dem schwachen Puls Fieber eigentlich nicht zu erwarten ist.“ Dann starrte er wieder abwesenden Blicks zum Fenster hinaus. „Du hattest Glück“, sagte er nach einer Weile und wandte sich Sebastian zu, „großes Glück. Du hättest auch drauf gehen können, aber nun hast dus wenigstens überstanden, davon können wir ausgehen. Primär, würde ich sagen, hat dich deine Jugend geschützt. Außerdem warst du ja auch sonst gesund. Draußen freilich wärst du bei so ’ner Geschichte ganz schnell im Krankenhaus gelandet.“

      „Das Ganze war schon ein dolles Ding“, ließ Sebastian sich hören.

      „Das kann man wohl sagen!“, stimmte der Boxer zu. „Was ist denn das bloß für’n Zahnarzt?“

      „Tja, der sitzt schon über 12 Jahre hab ich mal vom Kalfaktor gehört“, erklärte Sebastian, „davon 8 Jahre beim Iwan und über 4 Jahre hier. Die Russen sollen ihn zu 25 Jahren verurteilt und nach 8 Jahren an die DDR überstellt haben. Und dann ist der auch, schätze ich, bestimmt schon über fünfundsechzig.“

      „Das Alter ist es nicht“, mischte der Arzt sich ein, „vielleicht aber die Lebensumstände …“

      „Na ja“, sagte der Boxer, „der Zahnarzt, das ist sicherlich ’n armes Schwein, aber dieser Wollny, das aufgeplusterte Zwerghähnchen, das ist ein Verbrecher.

      Wenn ein Arzt dem sagen lässt, es bestehe Lebensgefahr, dann wischt der das einfach mit einer Handbewegung weg. Und auch dass sie dich“, wandte er sich an Sebastian, „erst nach Tagen und Anmeldung eines Hungerstreiks zum Zahnarzt gelassen haben …“

      „Der Sebastian fast umgebracht hätte“, ließ der eher zurückhaltende Siegfried sich hören.

      „Das ist wieder ’ne ganz andere Sache“, winkte der Boxer ab.

      „Ach, wir wissen ja mit wem wir’s hier zu tun haben“, wandte Sebastian ein.

      „Ob nun der Zahnarzt oder das Zwerghähnchen … Immerhin lebe ich noch.“

      „Nimms nicht auf die zu leichte Schulter“, mahnte Sedlmayr. „Du wirsts ja sehen, wenn du auf den


Скачать книгу