Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
sagte Sebastian, „bestell’ mal Kraftbrühe, Rührei und Buttertoast morgen zum Frühstück.“
Sedlmayr schüttelte den Kopf. „Gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und schon wieder solche Ansprüche. Und hinsichtlich der Ernährung, da werden wir mit Bordmitteln auskommen müssen.“
Das war dann aber auch leichter gesagt, als getan. Der Arzt machte am nächsten Morgen aus Sebastians Frühstückszuteilung eine Scheibe Brot mit Margarine und Marmelade zurecht, schnitt die Brotscheibe schließlich in ganz kleine Stückchen und stellte den Abwassereimer in Kopfhöhe an Sebastians Bett.
„Warum das?“, fragte der misstrauisch.
„Du wirst das Brot erst mal nicht bei dir behalten“, erklärte der Arzt ganz sachlich.
Und so kam es dann auch. Kaum hatte Sebastian den ersten kleinen Bissen, der ihm vom Arzt in den Mund geschoben worden war hinuntergeschluckt, hob sich fast gleichzeitig der Magen und der Brocken landete mit etwas Flüssigkeit vermischt im Eimer.
„Trink erst mal wieder was“, forderte der Arzt und hielt ihm den Becher mit diesem undefinierbaren Kaffeeersatz hin.
Sebastian griff nach dem Becher, konnte ihn aber nicht halten ohne etwas zu verschütten. Seine Hand zitterte dabei deutlich.
„Da siehst du ja selbst wie schwach du bist. Nicht mal den Becher kannst du ruhig halten“, lautete der Kommentar des Arztes, der Sebastian damit aufzurütteln versuchte.
Schluck für Schluck trank der den Becher dann langsam leer.
„Besser als nichts“, sagte der Arzt. Mit großer Geduld schob er Sebastian immer wieder Bissen für Bissen in den Mund, die der aber ebenso gleichbleibend wieder in den Eimer würgte. In Abständen ging das den ganzen Tag so, auch den zweiten Tag … Sebastian ekelte sich inzwischen vor jedem Bissen.
„Ich weiß, das ist eine Tortur“, bestätigte der Arzt. „Aber andererseits“, sagte er, „andererseits schaffst du’s ja nicht mal alleine zum Pinkeln bis an den Kübel und siehst jetzt auch schlechter aus als noch am ersten Tag …“ „Ich weiß, ich glaub dir’s auch, kann’s aber nicht ändern.“
„Das musst du aber! Wir essen inzwischen dein Brot und dein Mittagessen. Das ist ja ganz schön für uns. So gehts aber nicht weiter.“
Doch es kam dann auch der Tag, an dem er einen allerersten Bissen bei sich behielt. Der Arzt, aber auch alle in der Zelle, die die Torturen um diesen ersten Bissen mitverfolgt hatten, freuten sich als hätten alle persönlich einen Sieg errungen.
„Endlich“, sagte der Arzt mit einem tiefen Seufzer, als Sebastian auch einen zweiten und dritten Happen Brot bei sich behielt. Der erholte sich dann, kam allmählich zu Kräften und erreichte schließlich den Kübel alleine, konnte sich auch selbst wieder waschen, verließ nach Wochen das Lager endgültig und stand eines Tages bei der Morgenzählung, ein wenig blasser und etwas mitgenommen, wie die anderen aufgereiht in der Zelle.
Das Liegen auf den Betten am Tage war den Gefangenen ja strengstens untersagt, doch kein Schließer hatte zu Sebastians Bettlägerigkeit auch nur ein Wort verloren. Stillschweigend hatten sie ihn morgens wie abends im Bett mitgezählt.
Es wurde auch nie klar ob sie wussten, dass Kommandoleiter Wollny durch die Verweigerung einer Zahnbehandlung im Krankenrevier diesen Jungen fast in den Tod geschickt hätte.
Beim ersten Rundgang im Hof bereiteten ihm die drei vorgeschriebenen Kniebeugen noch Schwierigkeiten, aber auch das gab sich bald.
Beim 20-Zeilen-Monatsbrief, zehn Zeilen nach Hause und zehn Zeilen an Christa nach Leipzig durfte er die lebensgefährliche Sache mit dem gezogenen Zahn gar nicht erwähnen, galt das doch als Anstaltsangelegenheit, worüber nichts mitgeteilt werden durfte. Das galt im übrigen auch für die vierteljährliche Sprecherlaubnis. Es gelang Sebastian lediglich etwas von einem abgeheilten Abzeß in den 10 Zeilen an seine Mutter mit unterzubringen. Es wäre, meinte Sebastian, sicher auch nicht gut für die zu Hause, wenn sie wüssten, dass Gesundheit und Leben eines politisch Verurteilten nicht allzuviel wert waren. Wie hatte doch Friedrich Sedlmayr, der Arzt, gesagt? Herzversagen sei immer eine probate Erklärung.
Kapitel 20
Die Sonne beschrieb inzwischen einen steilen Bogen am wolkenlosen Himmel wie es der Zeit Ende Juni entsprach. Es blieb vor allem lange hell und sonnige Tage gab es in diesem Sommer viel mehr, als im Jahr zuvor, dem verregneten Sommer 54. So schön ein heißer Sommer draußen sein mochte, in den überbelegten Zellen stand die aufgeheizte Luft, vor allem direkt unter ’m Flachdach in der obersten Station.
An solchen Tagen frönten die Schließer unter Kommandoleiter Wollny immer wieder mal ausgiebig ihrem Hobby, mit dem Verbot die Fensterklappen in den Zellen zu öffnen und sich dort der Jacken zu entledigen. Dazu schlichen sie vor sich hingrinsend auf den Gängen in unregelmäßigen Abständen von Zellentür zu Zellentür und linsten dort durch die Spione. In Abständen konnte man dann das Krachen von Schlössern und Riegeln durch den Bau dröhnen hören. Mancher wurde erwischt, weil er seine Jacke aufgeknöpft getragen hatte. Andere wieder, weil sie trotz des Verbots das Fenster einen ganz schmalen Spalt offen gehalten hatten. Das hieß dann vierzehn Tage Kellerarrest oder aber auch nur eine eingetragene Verwarnung. Es blieb dann weitestgehend der gerade gültigen Laune des Kommandoleiters überlassen.
Der Raum einer Zelle, vor 100 Jahren für eine, allenfalls und ausnahmsweies zwei Personen konzipiert, erwies sich nun, mit vier beziehungsweise sechs Gefangenen, als völlig überbelegt. Schikanen vor allem an heißen Sommertagen machten dann aus so einer Zelle eine Folterkammer. Der Schweiß lief einem dort aus allen Poren und aus Sauerstoffmangel preßten sie der Reihe nach abwechselnd Mund und Nase gegen die Türspalten, um so Luft vom Gang vor den Türen zu schnappen. Dazu kam bei solchen Witterungsverhältnissen dann noch die vermehrt auftretende Ausdünstung aus den stets übervollen Kübeln.
Eines Tages, gerade mal von den fast Toten wiedererstanden, begann sich, zuerst kaum merklich, sein zuvor untereiterter Gaumen wieder aufzuwölben. Sebastian hatte es zuerst mit der Zunge ertastet. Verdammter Mist! ging es ihm durch den Kopf und vor sich sah er erneutes Ungemach. Schmerzen plagten ihn zwar nicht, doch es war klar, dass sich dort wieder Eiter anzusammeln begann.
Sedlmayr sah sich die Sache an, tastete die werdende Geschwulst am Gaumen ab und schüttelte den Kopf. „Die hätten dir gleich Penizillin geben müssen. Das muss jedenfalls raus“, sagte er. „Du musst dich wieder melden, die werden das aufmachen.“
„Mann oh Mann, wie lange soll denn das noch so weitergehen?“, maulte Sebastian.
„Die müssen dir Penizillin spritzen“, warf der Arzt ein.
„Da kann man nur lachen“, winkte Sebastian ab. „Penizillin für’n Staatsfeind“, und er schüttelte den Kopf.
„Also aufschneiden werden sie’s auf alle Fälle“, sagte der Arzt.
„Na gut, aber die können mir doch nicht wieder so’ ne Betäubungsspritze verpassen.“
„Nee, das natürlich nicht.“ Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Dann schneiden die einfach so drauflos?“
Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht“, sagte er, „wahrscheinlich …“
Nach seiner Meldung am nächsten Tag, brachte man Sebastian noch am selben Tag ins Revier und dort auch ohne Aufenthalt im Kellerflur direkt zum Zahnarzt, demselben, der ihn kürzlich fast umgebracht hatte. Im Behandlungsstuhl konnte er sichs nicht verkneifen, ihn an dessen fast verhängnisvollen Fehler zu erinnern. „Also die Spritze letztlich, du erinnerst dich, die Spritze in den vereiterten Kiefer … Ich wäre fast draufgegangen.“
Dem alten Zahnarzt schien das immerhin peinlich zu sein, aber er überging die Bemerkung. „Wir müssen schneiden“, sagte er ganz sachlich zum Sanitätswachtmeister, nachdem er den Gaumen abgetastet hatte.
Sebastian machte sich auf Schlimmstes gefasst.