Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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kam der Schnitt mit dem Skalpell, dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Vor allem aber, als der Zahnarzt mit der Pinzette und einem Gazetupfer auch noch den Eiter aus der Wunde wischte verspürte er einen rasenden Schmerz. Und das wars dann auch.

      Er fühlte sich auf dem Weg zurück über den Hof noch immer leicht benommen.

      „Ich bin vor Schmerzen fast in Ohnmacht gefallen“, erzählte er in der Zelle, als Sedlmayr sich die große Schnittwunde an Sebastians Gaumen ansah.

      „Kann ich mir denken“, sagte der Boxer und auch Siegfried wollte den Schnitt im Gaumen dann ebenfalls in Augenschein nehmen.

      „Sieht schlimm aus“, war die einhellige Meinung.

      „Ich krieg ja fast ’ne Maulsperre“, protestierte Sebastian endlich.

      „Ob das mal ausreicht, dieser Schnitt da …“, gab der Arzt zu bedenken.

      „Wie meinst du das, warum soll das nicht ausreichen?“, fragte Sebastian verunsichert.

      „Na ja, es könnte sich erneut Eiter bilden.“

      „Und was kann man dagegen tun?“

      „Eigentlich nichts …“

      „Kann das auch von alleine weggehen?“

      „Vielleicht. Wahrscheinlicher aber nicht.“

      „Und wenn nicht?“

      „Tja, dann frißt der Eiter sich womöglich durch den Knochen der Kieferhöhle.

      Von dort könnte er auch in die Augenhöhle geraten und schließlich auf den Sehnerv treffen …“

      „Hör auf damit!“, protestierte Sebastian. „Wenn das alles einträfe, wäre ich letzlich zahnlos und blind.“

      Der Arzt lachte. „Aber Penizillin“, sagte er dann, „das wäre schon wichtig.“

      „Na, das sind ja schöne Aussichten“, bedankte Sebastian sich.

      Der Schnitt im Gaumen heilte bereits nach wenigen Tagen, doch zehn Tage später traf prompt ein, was der Arzt als Befürchtung geäußert hatte: Der Gaumen quoll erneut auf. Auch diesmal hielten akute Schmerzen sich in Grenzen.

      Sebastian meldete sich erneut zum Zahnarzt. Und die Schließer wussten inzwischen Bescheid. Im Behandlungsraum tauchte diesesmal ein Arzt auf, der, wie Sebastian bemerkte, unter dem weißen Kittel eine Offiziersuniform trug. Offensichtlich hatte der die Genehmigung zu erteilen Penizillin zu verabreichen oder auch nicht.

      Sebastian sah dann nur, dass der Zahnarzt eine Spritze aufzog und spürte wie er mit der Nadel Stich für Stich rund um die Geschwulst setzte.

      „War das Penizillin“, fragte er danach.

      Der Zahnarzt nickte.

      Wieder in der Zelle berichtete Sebastian Friedrich Sedlmayr, dem Arzt, von der Penizillingabe. „Ein Offizier war dabei“, erzählte er. „Ich konnte die Uniform unter’m weißen Kittel erkennen. Der musste wohl das Penizillin erst genehmigen.“

      „Das ist stark anzunehmen“, bestätigte Sedlmayr. „Penizillin wird ja auch draußen nicht beliebig verordnet.“

      „Dann ist’s ja doch erstaunlich, erklärte Sebastian, „dass die einen westlichen Agenten, einen Feind des Volkes, bei der Verordnung berücksichtigt haben.“

      „Das musst du gar nicht so ironisch sagen“, ließ der Arzt sich vernehmen. „Penizillin im Knast und dann noch für einen Artikel 6er, das ist nicht so selbstverständlich … vielleicht, weil du noch so jung bist?“ Sedlmayr zuckte dazu mit den Schultern. „Ich weiß nur“, sagte er, „dass mit dem Zeug ganz allgemein ziemlich gegeizt wird, auch draußen.“

      „Wir leben doch im humanen Strafvollzug“, witzelte der Boxer. „Das sagen die jedenfalls immer“, setzte er mit gespielt naiver Miene hinzu.

      Sebastian saß inzwischen wieder auf einem Hocker und starrte mit den Händen auf den Knien vor sich auf den Boden. Dann blickte er zum Arzt hoch, der gegen einen Bettpfosten gelehnt stand. „Meinst du“, fragte er ihn, „dass das noch mal wiederkommen kann?“ Dazu wies er mit dem Zeigefinger auf die rechte Wange. „Ich meine das mit dem Eiter.“

      „Penizillin ist schon richtig“, antwortete der Arzt. „Der Abzeß wird erst mal verschwinden. Doch der Herd, der könnte sich verkapseln, entwickelt sich weiter und könnte die Kieferhöhle angreifen.“

      „Das wäre sicher schlimm …?“, fragte Sebastian.

      Der Arzt nickte bestätigend. „Und ob“, sagte er, „das kann aber auch erst in zwanzig, dreißig Jahren so weit sein. Wenn du wieder draußen bist, dann lass das mal überprüfen.“

      „Na ja, ein Weilchen dauerts ja noch … Aber wenn’s schneller geht und noch hier im Knast?“

      „Das müsste dann operiert werden.“

      „Operieren im Knast?“

      Der Arzt schüttelte den Kopf. „Im Haftkrankenhaus“, sagte er.

      „Und wenn dann nichts passiert, also wenn die wieder mal nicht reagieren?“ Sebastian sah dazu den Arzt an .

      Der hob die Schultern, stieß sich vom Bettpfosten ab und breitete die Hände aus. „Was soll ich dazu sagen? Ich bin ja auch bloß ’n Knastrologe wie alle hier.“

      „Aber wenn was passieren sollte und dann wieder nichts geschieht, könnte das lebensgefährlich sein?“

      „Eine komische Frage“, sagte der Arzt, „aber möglich ist natürlich alles. Doch so eine Operation ist auch keine Lappalie.“

      Vom Abzeß bemerkte Sebastian bald nichts mehr. Lediglich mit der Zunge erspürte er noch eine lange wulstige Narbe am Gaumen.

      Wochen vergingen in dauernder Wiederholung eines ständigen Einerleis. Büchertausch gabs auch nur noch monatlich. Sebastian hatte sich mit dem älteren Bücherkalfaktor etwas angefreundet, das heißt, dem tat der junge Kerl wahrscheinlich leid, der offensichtlich in geistiger Notlage sich stets recht intellektuelle Bücher bei ihm bestellte.

      Sebastian hatte dann auch mit ihm abgesprochen, dass der ihm die deutchen Klassiker bei jedem Büchertausch nacheinander in die Zelle geben würde. Dabei hatte Sebastian dann auch die Erfahrung machen können, dass etwa Goethe ein Schutz gegen depressive Stimmungen sein konnte, aber auch Herder und etwas weniger vielleicht Schiller, wie er meinte.

      Eines Tages wurde Sedlmayr überraschend aus der Zelle geholt. Vielleicht zusätzliche Post von zu Hause, rätselte man unter den Zurückgebliebenen. So was gab’s manchmal. Und wenn so ein Brief sehr Wichtiges für den Gefangenen enthielt, dann konnte es, wenn sicherlich auch äußerst selten geschehen, dass der Kommandoleiter diesen Brief oder auch nur einen Ausschnitt daraus, dem Gefangenen in seinem Büro vorlas.

      Doch das traf nun bei Sedlmayr nicht zu, denn als er wieder in die Zelle zurückgebracht worden war berichtete er, dass er schon am nächsten Tag als Arzt in ein Haftkrankenhaus verlegt werden würde. Er wisse nur noch nicht in welches. „Ich habe damit noch gar nicht gerechnet“, sagte er.

      „Das ist doch nicht verwunderlich“, äußerte der Boxer sich zu dieser Überraschung. „Es ist schließlich klar, dass Ärzte gerade unter den Verhältnissen hier, also in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Arbeitslagern … immer gebraucht werden. Wir alle hier“, fuhr er mit einer umfassenden Handbewegung fort, „zählen doch, jeder einzelne, zu einem Arbeitskräftereservoir der DDR, das beim Einsatz den Staat fast nichts kostet. Und Ärzte braucht es dann natürlich, um die Arbeitskraft des Einzelnen möglichst zu erhalten oder wieder herzustellen.“

      „Wie dem auch sei und wozu du als Arzt auch eingesetzt wirst“, wandte Sebastian sich an Sedlmayr, „eines ist doch klar: Als Arzt gehörst du, auch als Gefangener, in eine andere Kategorie. Hier bist du jetzt bloß Strafgefangener. Dort aber wirst du eine Einzelzelle kriegen, einen weißen Kittel und eine ganz andere Verpflegung. Dazu kann man nur gratulieren.“

      Und


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