Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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und die anderen blieben teils traurig, teils ein wenig neidisch zurück.

      Der Friedrich Sedlmayr sei für ihn ein Glücksfall gewesen, erklärte Sebastian ein bisschen nachdenklich, nachdem der Arzt die Zelle verlassen hatte. „Wenn der sich nicht tagelang mit großer Geduld um mich gekümmert hätte“, fuhr er fort, „wäre ich in meiner mehr als nur desolaten Verfassung womöglich draufgegangen.“ Es hatte dann ja immer noch gut drei Wochen gebraucht, bis er halbwegs wieder auf eigenen Beinen hatte stehen können.

      „Eine simple Erkältung, eine Lungenentzündung etwa, hätten ausgereicht“, sagte er, „mir das Licht für immer auszublasen.“ Das habe natürlich auch Sedlmayr gewusst, der ihn ohne Pause zum Essen förmlich gequält hatte.

      Sebastians Mutter schrieb ihm eines Tages in einem der Monatsbriefe, dass die Bauunion einen Einzelvertrag mit seinem Vater geschlossen habe und dass sein jüngerer Bruder auf Grund des Vertrages nun auch Abitur machen dürfe.

      Da Sebastian sich darunter nicht wirklich etwas Konkretes vorstellen konnte erkundigte er sich während des Antretens zur Freistunde bei Gefangenen aus der Nebenzelle, von denen er wusste, dass sie erst kürzlich verurteilt worden waren und von einem, ein Diplomingenieur, von dem zumindest anzunehmen war, dass er über solche Verträge, von denen seine Mutter ihm geschrieben hatte, Bescheid wissen konnte, erfuhr er dann auch, dass es diese Einzelverträge mit einem Betrieb wirklich gab, statt der normalen Kollektivverträge mit allen anderen Arbeitern und Angestellten. Sonderverträge also, die deshalb auch „Intelligenzverträge“, hießen und mit einigen Vorrechten ausgestattet waren, vor allem hinsichtlich der Versorgung mit Mangelwaren. Dahinter stände die Absicht, sagte man ihm, Ingenieure und Wissenschaftler in der DDR zu halten. Eine „Notmaßnahme“. Zu viele davon seien bereits in den Westen getürmt.

      Bei einer vierteljährlichen Sprecherlaubnis, also dem halbstündigen Besuch seiner Mutter, erfuhr er schließlich, dass so ein Einzel- oder Intelligenzvertrag auch mit einer Garantie ausgestattet sei, dass nämlich Kinder dieser Intelligenzler, die bis dahin ja großenteils der bürgerlichen Klasse zugerechnet worden waren und damit eigentlich dem Klassenfeind nahestanden, nun bei entsprechender Leistung weiterführende Schulen besuchen und auch studieren durften.

      Die Not des Staates DDR, dem die besten Leute wegliefen habe in diesem Fall die ihm innewohnende Willkür ein wenig eingrenzen müssen, nur würde das den Freund auch nicht mehr retten überlegte Sebastian dort am Tisch seiner Mutter gegenüber.

      „Dein Bruder“, hörte er seine Mutter wieder, gemeint war der jüngste, „wird das nun wahrnehmen können.“

      „Na toll, da kommt so was für den ja gerade zum richtigen Zeitpunkt … Alles weitere wird sich später finden. Für mich gab’s damals ja noch keinen Platz, aber das ist nun auch egal. Ich habe diese prekäre Schule hier erst mal zu absolvieren.“ Dazu schielte er zum Wachposten am selben Tisch, der aber wohl mit dem Begriff des Prekären nichts anzufangen wusste und so diesen Satz unbeanstandet hatte durchgehen lassen.

       Kapitel 21

      Martin Schüler, der Boxer, erteilte, zum Spaß der anderen in der Zelle, Sebastian Boxunterricht in der Enge zwischen den Betten. Beide umwickelten sich dazu ihre Fäuste mit Handtüchern. Zumeist krachte Sebastian, nach einem mehr oder weniger kurzen Schlagabtausch, in eines der unteren Betten. Nach einigen Tagen emsigen Trainings passierte das einmal sogar dem Bezirksmeister im Mittelgewicht, zur Freude Sebastians und unter dem Beifall der Zellenbelegung.

      Dann geschah es immer öfter, dass Martin Schüler irgendwie lustlos dieses Boxtraining ausfallen ließ. Diese Lustlosigkeit steigerte sich. Und wenn er sich doch wieder mal auf so einen Boxkampf einließ hatte Sebastian natürlich nach wie vor keine wirklichen Chancen, dennoch fiel allen Martin Schülers Kurzatmigkeit auf. Auch erschien er blass und schwitzte leicht, dazu kam Appetitlosigkeit und so verlor er schließlich an Gewicht. Allmählich wurde sein Gesicht schmal …

      In der Zelle war man sich einig: „Du musst dich zum Arzt melden. Da stimmt doch mit dir was nicht.“

      Aber Martin Schüler sperrte sich: „Ich bin doch nicht krank, das kann gar nicht sein.“

      „Du denkst wohl als guter Boxer bist du für immer gegen alles immun?“, fragte Sebastian.

      „Unsinn“, wehrte Martin Schüler ab.

      „Aber du merkst es doch selbst, du hast ganz schön abgenommen und nicht bloß, weil der miese Fraß hier nicht schmeckt.“

      Da mischte sich dann auch der Neue, der Nachfolger Sedlmayrs, ein Diplomingenieur für Maschinenbau, ein: „Du schwitzt doch vor allem auch nachts stark und das kann ja nun nichts mit sommerlicher Hitze zu tun haben. Draußen ists nämlich immer noch ziemlich kühl. Niemand von uns hier schwitzt so“, sagte er mit einer ausholenden Handbewegung, „aber Nachtschweiß wie bei dir“, sagte er kopfschüttelnd, „, das ist nicht normal und könnte auf TBC schließen lassen.

      Du solltest dich wirklich mal zum Revier melden und zwar bald.“ Dem stimmten auch die anderen in der Zelle zu.

      Endlich gab dann auch der einstige Bezirksmeister im Mittelgewicht diesem Drängen nach. Die Vorstellung von einer Tuberkulose schreckte ihn letztlich doch auf, sodass er sich vor einer möglichen Gewißheit nicht mehr reinen Gewissens zu drücken vermochte.

      Am nächsten Tag meldete er sich gleich am Morgen ins Revier und wurde dann am Nachmittag mit einigen anderen Gefangenen über den Hof geführt. Im Kellerflur des Krankenreviers musste er wie üblich warten und bangte innerlich vor einer möglichen Wahrheit, die ihn, einen Sportler, tief treffen musste: TBC!

      Schlicht die Motten … Nach seiner Rückkehr in die Zelle berichtete er, der Arzt dort hätte ihm den Rücken abgeklopft, abgehört, was von TBC gemurmelt und auf eine direkte Frage erklärt, es handele sich um einen Verdacht, der erst noch mit Röntgenaufnahmen abgeklärt werden müsse. „Das solle, so weit ich das mitgekriegt habe“, sagte Manfred Schüler, „hier in Cottbus in irgend einer Poliklinik geschehen. Ich kann das noch gar nicht glauben“, und er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Dabei habe ich nie geraucht …“ Als die aus der Nebenzelle beim Antreten zur Freistunde auf dem Gang vor den Zellentüren hörten, dass der Boxer wahrscheinlich die Motten habe, wunderten sie sich nicht. Drei Zellen weiter habe das ja auch schon einer, erzählten sie. Und aus einer Zelle gegenüber sei vor vierzehn Tagen einer mit offener TB ins Haftkrankenhaus nach Waldheim auf ’ne Mottenstation verlegt worden. Die kriegten dort massenhaft Butter zu essen ging das Gerücht. Das solle in den Lungen die offenen Kavernen verkalken helfen.

      Schade, dass der Sedlmayr nicht mehr da ist, dachte Sebastian, der hätte dazu was Genaueres sagen können, ob das mit der Butter und dem Verkalken noch stimmt oder ob nicht gerade auch Penizillin gegen einen Mottenbefall besser hilft?

      Martin Schüler blieb mit seiner offenen TBC, wie sich’s beim Röntgen herausgestellt hatte, noch drei Wochen auf der Zelle und alle konnten beobachten wie er von Tag zu Tag immer irgendwie durchsichtiger erschien.

      „Eine große Sauerei“, meinte der Boxer selbst. „Ich hätte gleich in Quarantäne gehört …“ „Da hast du Recht“, stimmte Sebastian zu. „Das wäre genau richtig gewesen, vor allem für dich.“

      „Das stimmt“, warf der Diplomingenieur ein, „aber durchaus auch für uns hier in der Zelle. Offene Lungentuberkulose ist, wie allgemein bekannt, höchst ansteckend. Und bei dem gehaltlosen Schlangenfraß hier sind wir alle gesundheitlich bereits angeschlagen, davon müssen wir ausgehen.“

      „Ganz meine Meinung“, erklärte der tuberkulosekranke Boxer. „Ich dachte jeden Tag die würden mich holen und jetzt sind schon drei Wochen vergangen.“

      „Wer weiß denn, was die sich so denken?“, ließ wieder mal Siegfried sich hören.

      „Nichts!“, reagierte Sebastian. „Die denken nichts und warten wahrscheinlich, bis sie einen Mottensammeltransport nach Waldheim zusammen haben.“

      Eines Tages holten sie ihn, Martin Schüler, den verurteilten Totschläger


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