Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
rechtliche Regel: ‚Im Zweifelsfalle immer zu Gunsten des Angeklagten‘, auf den ‚Misthaufen der Geschichte‘ geworfen, wie sie das nennen.“
Sebastian stieß sich vom Bettpfosten ab, gegen den gelehnt er gestanden hatte.
„Das alles erinnert so’n bisschen ans Mittelalter“, sagte er, „also wie bei den Hexenprozessen damals: Da wurdest du in einem zugebundenen Sack ins Wasser geworfen. Dem Gottesurteil unterwerfen nannten die das damals. Wenn du abgesoffen warst galt das als Beweis deiner Schuld. Hattest du’s aber, kaum vorstellbar, überlebt, das soll ja sogar vorgekommen sein, warst du mit dem Teufel im Bunde. Wieder ein Beweis deiner Schuld. Was ist denn heute hier im Prinzip anders?“, fragte er mit ausgebreiteten Armen und sah sich dazu in der Zelle um.
Sedlmayr nickte zustimmend. „Überbordende Bürokratien“, sagte er, „unübersichtlich und undurchschaubar für den Bürger sind aber auch schon eine moderne Form von Willkür. Das kann in jeder Demokratie geschehen.“
„Du meinst auch im Westen?“
„Ja“, sagte Sedlmayr lächelnd. Dann zitierte er: … „nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“, und blickte sich dazu in der Zelle um. „Na“, fragte er, „von wem ist das?“
„Schiller!“, ließ Martin Schüler, der Ex-Boxer, sich vernehmen.
„Setzen! Eins!“, sagte Sedlmayr.
„Danke, danke …“, antwortete Martin lächelnd. „Aber noch mal zum Mittelalter und den Hexenprozessen. Bei dem, was ich inzwischen gehört habe sind wir wirklich nicht viel besser dran als die armen Menschen damals. Und ich habs wie auch viele andere an mir selbst erlebt. Mein Vater ist Facharbeiter, ich auch, bin Elektriker. Das alleine heißt aber nicht immer was im Arbeiter- und Bauernstaat. Jetzt sitze ich hier als Totschläger und muss noch froh sein, dass sie mich nicht zum Mörder gemacht haben.“ Dazu lief er im schmalen Gang zwischen den Betten langsam auf und ab, drei Schritte hin, drei zurück und blieb wieder stehen. „Dabei wissen die, dass das kein Totschlag, sondern ein Unglücksfall war.“
„Du bist ein guter Boxer“, warf Sedlmayr, der Arzt, von seinem Hocker aus ein.
Bezirksmeister im Mittelgewicht, das ist doch schon was, aber du hast dich damit auch überschätzt. Bei uns hier in der DDR“, sagte er, „da gehts doch nicht primär ums Können, in der Hinsicht sind die meisten führenden Genossen, wo auch immer, die reinsten Luschen. Nein, nicht ums Können gehts, sondern ums Kennen. Und wenn du dann auch noch gut sein solltest und die richtigen Leute kennst und die hast du gekannt“, betonte Sedlmayr, „und ins politische Horn bläst, was du abgelehnt hast, beziehungsweise nicht wahrnehmen wolltest, kannst du dir vieles leisten. Andersherum kann dir’s aber auch gehen wie jetzt gehabt. Du hättest jedoch wissen müssen, dass ein guter Sportler hier halt nur Spitzensportler werden und damit ein Vorbild vor allem der Jugend sein kann, wenn er das hohe Lied der Partei singt. Und danach hast du dich eben nicht gerichtet. Du warst nämlich schon ganz schön weit, Bezirksmeister!“ Und der Arzt nickte bedeutungsvoll. „Das war ein Fehler von denen“, sagte er, „du hättest ohne ihre direkte Einwilligung gar nicht so weit kommen dürfen. Eine Menge Leute kannten dich schon. Du hattest Anhänger und Bewunderer, aber du hast nicht mitgemacht im Spiel: ‚Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’‘ und hast geglaubt, du könntest dir ohne da mitzusingen deine eigene Melodie pfeifen.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nee, mein Lieber“, sagte er, „da spielt es überhaupt keine Rolle, ob du gut und Arbeiter und Kind eines Arbeiters bist.
Das ist doch alles bloß Mimikry. Du warst lediglich naiv und hättest eben auf öffentliche Auftritte verzichten müssen, also keine Beteiligung an Meisterschaften und so … Schließlich, die Ehre eines DDR-Meisters“, fuhr er nach kurzer Pause fort, „und die eines Martin Schüler, Facharbeiter, entstammen entgegengesetzten Welten. Hier hattest du dich, so sehe ich das, verirrt, um dich dann etwas spät auf die Ehre des Martin Schüler zu berufen im Glauben, du könntest vom ganzen politischen Getriebe unabhängig sein. Diese Meinung ist zwar einerseits aller Ehren wert, andererseits aber eine glatte Illusion. Diesen ignoranten Irrglauben und die naiv verschuldete Verspätung musst du nun mal bitter büßen.“
„Na gut, aber den anderen Weg, den du meinst“, erwiderte Martin Schüler mitten im Gang zwischen den Betten stehend, indem er das du besonders betonte, „den hätte ich sowieso nicht gehen können.“
„Schon richtig, in Ordnung“, sagte der Arzt.
Martin Schüler blieb am Fenster stehen und sah eine Weile hinaus. „So ist es eben“, sagte er, drehte sich um, sah den Arzt an, der noch immer neben der Tür auf seinem Hocker saß und nickte ihm zu. „Das wärs dann also, das mit dem Boxen. War alles Blödsinn“, winkte er ab.
Der Arzt wiegte den Kopf. „Du musst nicht gleich die Flinte ins Korn werfen wollen.“
Martin Schüler lachte leicht abschätzig. „Du musst ja auch deine eigene Suppe auslöffeln“, wandte er sich an den Arzt, „wie wir alle hier.“
Sedlmayr hob kurz die Schultern und nickte zustimmend. „Leider“, sagte er dazu, „leider habe ich mich täuschen lassen.“ Das war dann auch schon das Weitestgehende, das von ihm über seinen Fall zu erfahren gewesen war. Dazu kam noch, dass er verheiratet war und mit Frau und sechzehnjährigem Sohn in Berlin-Pankow gewohnt hatte und eben diesen seltenen DDR-Sportwagen fahren durfte. Über seine berufliche Tätigkeit, seine Arbeitsstelle oder die Position, die er möglicherweise im Gesundheitswesen innegehabt hatte, sprach er nie.
Und das mit der „Mangelwirtschaft“, meinte Sebastian und wohl auch die anderen in der Zelle, das konnte natürlich nicht alles gewesen sein. Doch war es nicht üblich in der Vergangenheit eines politisch Verurteilten, sofern er nicht selbst darüber sprach, herum zu bohren.
Beim Wecken am Morgen wurde in den Zellen seit geraumer Zeit kein Licht mehr eingeschaltet, denn durchs schmale Gitterfenster fiel um diese Zeit bereits frühes bläuliches Morgenlicht. Der März galt schon als Frühlingsmonat und so war die Heizung bereits wochenlang kalt geblieben. Kalt war es dann auch in den Zellen, sodass die Gefangenen sich tagsüber wieder ihre Schlafdecken umhängten.
Kapitel 19
An so einem Morgen Ende März wachte Sebastian noch vor dem offiziellen Wecken auf. Ein leichtes Ziehen an einem oberen Eckzahn irritierte ihn. Es zog an dem Zahn, mit dem er sich vor seiner Verhaftung in Behandlung befunden hatte. Ein Erdbeer- oder Stachelbeerkorn aus der Marmeladenzuteilung war offensichtlich in den aufgebohrten Zahn geraten. Draußen hätte man das mit einer Stecknadelspitze sicher selbst beheben können. Aber in so einer Zelle …?
Dort blieb erst nur mal die Hoffnung, dass sich das von alleine regeln würde.
Doch wenn nicht? Einen Zahnarzt, also einen Gefangenen, gabs ja im Krankenrevier.
Sebastian beschloss erst einmal abzuwarten und auch gar nicht darüber zu reden.
Handelte es sich wahrscheinlich nur um eine Winzigkeit. Er würde erst einmal bis zum nächsten Tag abwarten und sich dann, wenn nötig, bei der Morgenzählung, vorschriftsmäßig zum Zahnarzt melden. Doch zum Arzt oder Zahnarzt ins Krankenrevier ging es erst dann, wenn im Zellenbau mehrere Krankmeldungen zusammengekommen waren. Normalerweise bemühte sich kein Wachtmeister wegen eines einzelnen Gefangenen über den Hof ins Revier, zumal aus dem Zellenbau mit den Langstrafern sowieso keiner arbeiten durfte und es von daher auch nicht so wichtig war, ob einer nun gleich behandelt wurde oder noch warten konnte, ja auch ruhig noch warten sollte. Es gab keine klaren Anordnungen wie mit den Krankmeldungen Gefangener im einzelnen zu verfahren sei.
Das blieb grundsätzlich dem Gutdünken des einzelnen Schließers überlassen.
Am andern Morgen, der dumpfe bohrende Schmerz am Zahn hatte nicht nachgelassen, sich eher verschlimmert, und so sprach Sebastian auch in der Zelle davon und tippte dabei mit dem Fingernagel gegen den Zahn.
„Seit wann denn?“, fragte der Arzt.
„Seit gestern“, antwortete