Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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Schüssel, Margarine auf einem Stückchen Margarine-Pergamentpapier sowie ein Messer, um die feuchte dunkle ‚Brotkuhle’, etwa 500 Gramm für den Tag, in Scheiben schneiden zu können. Das musste schnell gehen, denn ein Messer sollte nicht lange in den Händen von Gefangenen bleiben. Die Herausgabe eines Messers an Häftlinge, wenn auch nur für Minuten, wunderte Sebastian immer wieder. Offensichtlich war das Zerschneiden eines ganzen Brotes in Scheiben der Anstaltsbäckerei für ca. 800 bis 1000 Gefangene nicht möglich.

      Eine andere Erklärung fand er nicht. Die Zellengenossen zuckten dazu nur die Schultern. Und schon kam das Krachen und Schmettern von Schlössern und Riegeln wieder näher und erreichte die eigene Zelle: Messer raus, Abwassereimer und Wasserkanne raus, Türe wieder zu.

      Rasch frühstücken, den Kübel der Reihe nach benutzen, denn schon kam das Schmettern der Schlösser wieder näher …: Kübel vor die Türe, Wasserkanne und Abwassereimer rein und raustreten zur Freistunde. Dann das Poltern der schweren Holzschuhe auf dem Dielenboden der Galerie im Gleichschritt an den Zellentüren vorbei und hintereinander die Granitstufen hinab.

      Beim Hinaustreten schlug die eiskalte Winterluft den Gefangenen entgegen wie ein Keulenschlag. Der Atem dampfte weiß in der Kälte.

      „Im Gleichschritt links, links, links zwo drei vier …“, erscholl die Stimme des Vorturners eigenartig dünn in der kalten Luft, erschien es zumindest Sebastian, der im Gänsemarsch hinter den andern und im Gleichschritt diesen Rundlauf absolvierte.

      „Alles Halt!“ Der Vorturner in der Mitte des tief verschneiten Rasenrondells schwenkt die Arme, schüttelt sie aus, die frierenden Häftlinge in der Runde folgen ihm. Der Vorturner beugte die Knie, einmal, zweimal, dreimal … und die Runde folgt ihm, bis auf ein paar ganz alte Männer, die sich dabei sichtlich quälten, immer wieder zum Vergnügen der Wachposten an den vier Ecken des ovalen Rundkurses. Zur eigenen Gaudi verlangten die dann anständige Kniebeugen von den Alten in der Erwartung, dass sie diese natürlich nicht zustande bringen würden. Der Spaß der Posten aus Langeweile und Frustation am Elend dieser Alten, Ende sechzig, Anfang Siebzig, die sich aus der Hocke, in die sie mit Absicht getrieben wurden, nicht mehr erheben konnten und kläglich sitzen blieben wurmte Sebastian zutiefst.

      Na ja, überdachte er diesen trostlosen Mutwillen der Wachposten: In der Kälte rumstehen zu müssen bei diesen langweiligen Rundgängen, da schikanierte man entweder alle Gefangenen oder leistete sich eine Gaudi mit wenigen, dort eben mit diesen alten Männern. Die Posten werden sich bei den einzelnen Rundgängen sicherlich ablösen. Der Vorturner aber bleibt fast den ganzen Vormittag bei jedem Wetter … Ist ja auch bloß ein Gefangener und hat sich auf dieses „Ehrenamt“, eingelassen. Deshalb auch kein Mitleid mit ihm sagte Sebastian sich.

      Endlich „Einrücken!“ Durchgefroren in den fadenscheinigen Sachen und wieder hinein in Zellen deren bloß überschlagene Heizungen kaum Wärme spendeten. Danach dösten alle wieder in ihre Decken gewickelt vor sich hin. Manchmal erzählte einer auch einen Schwank aus seinem Leben, von dem Sebastian annahm, dass es dabei eher ums Reden als um die Originalität des einst Erlebten ging. Ein anderer wieder machte sich laut Sorgen um seine Familie. Jüngere vor allem befürchteten immer wieder insgeheim oder auch offen das Ende ihrer jungen Ehen, sei es wegen des politischen Drucks auf die Frauen draußen, nämlich die Scheidung einzureichen. Etwas das vor allem auf politisch Verurteilte zutraf, oder ganz allgemein ihrer langen Strafen wegen. Das jahrelange Warten auf einen politisch verurteilten Ehemann setzte schon einiges an Zuneigung, Charakterfestigkeit und Überzeugung voraus, eingedenk mancher Stigmatisierung, die das tägliche Leben draußen beträchtlich erschweren konnte. Immerhin Anforderungen denen nicht alle Lebenspartnerinnen so ohne weiteres standhielten. Besonders tragisch, wenn manche in den Zellen noch von ihren jungen Frauen schwärmten, während diese draußen bereits die Scheidung betrieben, um das dem gefangenen Partner dann qua Amt mitteilen zu lassen.

      Wenn also einer in der Zelle außer der Reihe Post bekam, Behördenpost, deren Empfang er quittieren musste, war inzwischen schon jedem klar worum es sich dabei fast immer nur handeln konnte. Sebastian sah dann wie die Unsicherheit dem meist jungen Empfänger ins Gesicht geschrieben stand, sah wie aus diesem Gesicht das Blut wich, wenn er den Inhalt des amtlichen Schreibens zur Kenntnis nahm, auf einen Hocker fiel und tonlos erklärte: „Meine Frau will sich scheiden lassen.“ Eine Mitteilung, die lediglich schweigende Verlegenheit in der Zelle hervorrief. Die meisten Betroffenen hatten mit einem solchen Schlag offensichtlich nicht gerechnet, zumal ihnen der direkte oder auch nur indirekte Druck nicht klar war, dem Angehörige, vor allem die meist jungen Ehefrauen von politisch Verurteilten, ausgesetzt sein konnten. Dagegen erwiesen sich Ehen älterer Gefangener im Schnitt als widerstandsfähiger und erprobter nach Krieg, Zusammenbruch und Kriegsgefangenschaft.

      So jedenfalls erklärte Sebastian sich dieses Phänomen und fand es dann doch erstaunlich, dass seine Freundin in Leipzig mit ihren zehn Zeilen im monatlichen Brief noch immer zu ihm hielt. Man war allerdings auch nicht verheiratet.

      „Du bist doch bestimmt noch ’ne Jungfer.“ So oder ähnlich hatten sie ihn in manchen Zellen schon zu ärgern, in Verlegenheit zu bringen oder einfach nur aufzuziehen versucht.

      Sebastian hatte dann aber nie erklärt, weshalb und wieso das alles bei ihm so sei, also das mit der Intimität … Wie hätte er reagieren sollen, wenn sie ihm zum Beispiel, wie geschehen, unterstellten, er hätte ja noch nicht mal ’ne nackte Frau auch nur von weitem gesehen. Hätte er denen sagen sollen, dass ihm Intimität zu wichtig sei, um das auf einer Kneipen-Toilette oder einem Feldrain abzumachen? Die in den Zellen hätten ihn ausgelacht. In solchen Fällen lachte dann aber immer er und schüttelte dazu vielsagend den Kopf.

      Nun war es aber auch so, dass es in längst nicht allen Zellen, ja sogar in den wenigsten in die er immer wieder verlegt worden war, so zu ging, dass zum Beispiel mal ein älterer Zelleninsasse, der wegen Unterschlagung in einem volkseigenen Betrieb zu 8 Jahren verurteilt worden war, meinte ihm erzählen zu können, dass er im Krieg eine junge Polin gehabt hätte, die so geil und feucht gewesen sei, dass, als sie so auf dem Bette gelegen habe, aus ihrer Muschi ein feiner Strahl in hohem Bogen gegen das Fensterlicht zu erkennen gewesen sei.

      Sebastian hatte dann dazu wieder etwas gequält gelacht und es als bloßen Witz gewertet, sich andererseits aber auch ziemlich geärgert, dass man ihm so einen lächerlichen Unsinn zumutete. Doch er war nun mal immer und überall der Jüngste. Im Laufe der Jahre würde sich das ja von selbst ändern.

       Kapitel 18

      Irgendwann neigte sich auch sein zweiter Winter in Gefangenschaft dem Ende zu. Während der letzten Februartage bis Anfang März rasten draußen Frühlingsstürme als wilde Jagd übers kahle Land und rissen die Rauchfahnen von den Kaminen der Lauben in den Kleingärten hinter der Zuchthausmauer. Verstreute Schneereste leuchteten dort noch weiß auf dunkler Erde und braunem Rasen. Die nassen Dächer von Häusern im Hintergrund glänzten im Widerschein eines zerrissenen Himmels voller jagender Wolken … So betrachtete Sebastian durchs enge Gitterfenster den Anbruch des Frühlings. Noch fehlten dort alle Farben. Schwarz starrten die nackten Äste der Bäume in einen aufgerührten Himmel.

      Was wird das Jahr bringen? fragte Sebastian sich. Ob der Sommer sich wieder so verregnet zeigen würde? 1954, das zurückliegende Jahr … Was war das eigentlich gewesen? Abgesehen von seiner Verurteilung. Zuerst wie eine Betäubung.

      Im Rückblick erschien alles noch immer leicht unwirklich, aber doch genau. Er erinnerte sich an alles bis in die Einzelheiten. Der Protest im ganzen Zellenbau damals, als sie ganz neu dort eingezogen waren. Und die neu gestopften Strohsäcke. Die Fußballweltmeisterschaft natürlich. Kein so großes Thema anfangs unter den Gefangenen, auch weil sie einfach nichts erfuhren. Doch dann wurden vor allem die Schließer munter, die das Ganze ja am Rundfunkgerät verfolgen konnten und so erfuhren auch die Gefangenen vom Stand der Dinge. Natürlich drückten alle in den Zellen der westdeutschen Mannschaft die Daumen.

      Sebastian erinnerte sich noch gut daran wie die Schließer den Gefangenen gegenüber auf einen Sieg der ‚Volksdemokratie‘ Ungarn schworen und wie zum Schluss dann doch der Klassenfeind den Sieg davongetragen hatte: Fußballweltmeister Deutschland! Das war doch was.

      Die


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