Torus der Tloxi. Matthias Falke
gefordert hatten. Sie war ihnen– wenige Tage nach der restlosen Zerschlagung des Sinesischen Imperiums – ohne Weiteres erteilt worden. Ihrer alten Herren ledig, von denen sie jahrhundertelang ausgebeutet und erniedrigt worden waren, hatten sie es eilig, unter das Dach einer neuen Großorganisation zu kommen. Dass wir ihnen weitgehende Rechte bei innerer Autonomie und Selbstverwaltung einräumten, war selbstverständlich; es wäre mit der Satzung der Union nicht anders zu vereinbaren gewesen. Dennoch wunderte es uns ein wenig. Sie hätten auch in Frieden ziehen und auf eigene Faust die Galaxie besiedeln, die befreiten Kolonien übernehmen und die Trümmer des zerschmetterten Imperiums wiederaufbauen können. Daran schienen sie keinen Gedanken verschwendet zu haben. Uns war es recht. Denn es versetzte uns in die Lage, uns ihres Know-hows und ihrer Expertise bedienen zu können. Sie waren die Bewahrer der sinesischen Technologie, die der unseren um Jahrzehnte voraus und in einem Maße überlegen gewesen war, die sich beinahe als tödlich erwiesen hätte. Jetzt war sie – geborgen im unbegreiflichen telepathischen Kontinuum der Tloxi – auf uns gekommen. Sie waren uns nach wie vor überlegen. Aber vorderhand schien kein Grund erkennbar, weshalb sie diese Überlegenheit gegen uns wenden sollten. Wir bedienten uns ihrer als eines fleißigen und arbeitsamen Volkes. Aber da sie keine Organismen, keine lebenden Wesen waren, sondern nur ein Heer uniformer Androiden, nahmen wir sie in gewisser Weise nicht als ebenbürtige Partner wahr. Bei aller Ehrfurcht vor ihrem technischen Ingenium –politisch betrachtet waren sie niemand, mit dem wir auf gleicher Augenhöhe verhandelt hätten. Das waren nur die Sineser gewesen. Und die hatten wir vernichtet.
Diese Situation änderte sich jetzt. Das Eigentliche bei einem Kongress geschieht hinter verschlossenen Türen: in den Vieraugengesprächen, auf den Korridoren, am Buffet oder im Bett. Das, was auf den offiziellen Verhandlungen und Konferenzen geschieht und was der sogenannten Öffentlichkeit in Ton und Bild präsentiert wird, verhält sich dazu wie die Oberfläche eines Ozeans zu seinen Abgründen.
Eine neue Erfahrung war mir, dass das Wesentliche schon im Vorfeld stattzufinden schien. Die Teilnehmer schickten Vorauskommandos. Inoffizielle Delegationen schwebten ein, zu »informellen Gesprächen«, wie das im Jargon genannt wurde. Es wurde sondiert oder miteinander bekannt gemacht. Man stellte sich vor und tastete einander ab, ehe man im Ring aufeinandertreffen würde. Das meiste davon fand, obwohl an Bord der MARQUIS DE LAPLACE, hinter verschlossenen Türen statt. Ich bekam davon nicht mehr zu sehen als die Einträge im Stabslog, die ich in mein Kommandanten-Logbuch überschreiben und absegnen musste. Hier war eine Delegation vom Sternbild Rigel zu Gast gewesen – fünf Mitglieder, drei Übernachtungen, Einzelkabinen –, dort hatte eine Gesandtschaft von einer mir unbekannten Welt im Quadranten Gamma-zwei vorgesprochen – zwei Personen, eine Übernachtung in gemeinsamer Suite. Und während ich mir wie ein Hoteldirektor vorzukommen begann, stolperte ich eines Tages über den nächsten Gast.
Ein Shuttle war angekündigt. Gelangweilt sah ich von der Brücke aus zu, wie es den Warprüssel vorwölbte und sich im hohen Neptunorbit materialisierte. All die Schiffe und Shuttles, mit denen die Abordnungen eintrafen, waren sinesischer Bauart, faktisch also von Tloxi konstruiert, denn alle diese Völkerschaften waren ja Vasallen Sinas, ohne eigene Raumfahrt, gewesen. Meine Neugier hielt sich also in Grenzen, als jetzt wieder eines dieser Shuttles – demjenigen nicht unähnlich, in dem Jennifer und ich seinerzeit geflüchtet waren – auf die MARQUIS DE LAPLACE zuhielt und ins Große Drohnendeck einflog. Stutzig wurde ich, als ich mein Logbuch aktivierte und vier sinesische Schriftzeichen auf meiner Konsole aufflammen sah. Die Kultur, die hier ihre Aufwartung machte und ihren Antrittsbesuch antrat, schien über keine eigene Schrift zu verfügen. Die Übersetzungs-KI des Stabslogs übertrug die vier sinesischen Ideogramme, offensichtlich etwas hilflos, in die lateinischen Lettern G.R.O.M. Auch das brachte mich nicht weiter. Ich beschloss, mir die Sache anzusehen.
Als ich den entsprechenden Korridor betrat, hatten sich die Honoratioren schon erwartungsvoll aufgebaut. Salana und Rogers standen nebeneinander, um den Neuankömmling zu begrüßen. Es schien ihnen nicht recht zu sein, dass ich auftauchte. Aber wegschicken konnten sie mich schlecht, ich war schließlich der Hausherr. Ich erkannte auch Rankveil und Kauffmann sowie einige nachgeordnete Referenten und Sekretäre, die ich vom Sehen kannte. Ordonnanzen und Hostessen hatten sich aufgebaut. Und selbst eine Kompanie Tloxi stand steif Spalier. Ein ziemlich großer Bahnhof für ein informelles Treffen. Umso verstimmter war ich, dass man vorgehabt hatte, das Ganze hinter meinem Rücken über die Bühne gehen zu lassen. Ich baute mich mitten im Korridor auf, der sich trapezförmig zum Vorraum eines der großen Konferenzsäle verbreiterte. Salana beschrieb wedelnde Handbewegungen. Rogers verzog das rote Gesicht zu seinem breitesten texanischen Grinsen. Dann öffnete sich die Schleusenkammer zum Großen Drohnendeck.
Eine Abordnung kam auf mich zu. Ich trat ihr einige Schritte entgegen, wobei ich zur Begrüßung die Hand hob und mein gewinnendstes Lächeln aufsetzte. Doch als ich realisierte, was da auf mich zukam, gefror meine Miene und die Hand sank mir kraftlos herunter. Ich taumelte zurück. Was war denn das?
Auf den ersten Blick sah es aus wie drei Gärtner, von denen der mittlere eine Schubkarre vor sich herschob. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sich die Gärtner als Tloxi, die mit fremdartigen Hoheitszeichen dekoriert waren. Und die Schubkarre war eher ein Aquarium, ein kistenförmiges Gefäß aus durchscheinendem Elastalglas, das auf einem Generatorfeld schwebte. In dem Glaskasten schwappten ein paar Hundert Liter Wasser. Und in diesem Wasser lag ein Stück abgebrochener Baumrinde. Das war alles.
»Ich begrüße Sie an Bord der MARQUIS DE LAPLACE«, brachte ich heraus, »des Flaggschiffs der Union …«
Weiter kam ich nicht.
Die drei Tloxi, die offenbar nur eine Eskorte waren, blieben stehen. Der Wasserbehälter glitt noch zwei Schritte weiter auf mich zu und hielt dann ebenfalls an. Ein elektronisches Knistern verkündete, dass sich eine Übersetzungs-KI aufgebaut und auf unsere Automatik geschaltet hatte. Erst später bekam ich heraus, dass das telepathische Kontinuum der drei begleitenden Tloxi in diesem Falle als Relais gedient hatte.
»Ich bin G.R.O.M., Hoher Repräsentant und Abgesandter des Planeten G.R.O.M., Hohepriester Seiner Heiligen Orden und debattierendes Mitglied Seines Mystischen Rates …«
Bei jedem zweiten Wort vergingen ganze Sekunden, bis die Übersetzungselektronik sich für den Begriff entschieden hatte, der dem Original am ehesten entsprechen konnte. Es war zu spüren, dass das, was hier »gesprochen« wurde – zu hören war nur die Übersetzung, der Gast selbst schien sich in einem anderen Medium zu äußern –, nur höchst unvollkommen in unser Vokabular und unsere Grammatik zu übertragen war.
»Exekutivmann des Großen Thrones und Bevollmächtigter der Theologischen Audienz. Ich vertrete die zweiunddreißig Schulen des Neuen Amtes und bin erlaucht, im Namen der einhundertundacht Metaphysischen Kammern aufzutreten.«
Mein Gott, dachte ich, dieses Stück Borke? Dieser drei viertel Meter, den man von einer alten Eiche abgeschlagen und in Brackwasser getaucht hatte?
Nachdem er noch eine Handvoll weiterer Titel heruntergerattert hatte, bedankte der Fremde sich in orientalischem Bombast für die Gastfreundschaft und wünschte uns allen viel Glück beim Aufbau einer friedlichen und – wenn ich es recht verstand – »kontemplativen Sonnengemeinschaft.«
Rogers und die anderen erwiderten in wohlgesetzten und weihevollen Worten die Begrüßungsfloskeln. Dann beeilten sie sich, den Gesandten in seinem Glaskasten in den Tagungsraum zu komplimentieren, dessen Tür sie mir vor der Nase zuschmissen. Ich blieb auf dem Korridor zurück. Während die Hostessen und das Tloxi-Kommando sich zerstreuten und die Gänge sich leerten, bemerkte ich Jennifer, die den Auftritt mit angesehen haben musste, in der dritten oder vierten Reihe hinter den vielen Würdenträgern. Jetzt löste sie sich von der Wand, an die gelehnt sie dagestanden war, und kam auf mich zu.
»Gratuliere!«, sagte sie.
Ihre Stimme war frei von Sarkasmus. Dennoch klang das Wort ganz anders als vor ein paar Tagen, als sie es mir zu vorgerückter Stunde über einen Champagnerkelch hinweg zugehaucht hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Was war das denn?«
Sie trug ein Masterboard bei sich, das sie hinter verschränkten Armen flach vor die Brust gepresst hatte. Jetzt