Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen. Albrecht Gralle
kurzzeitig ausfallen.“
Wir ließen uns noch den Nachtisch schmecken, Crème Brûlée, sehr lecker, und traten wieder auf die Georg-Straße. Zwischendurch musste ich mir sagen: Ich bin jetzt mit dem wiedergekommenen Christus unterwegs, weil alles so normal schien. Nein, es gab noch einen kurzen Zwischenfall, als ein Auto ihn streifte und der Seitenspiegel zerbrach. Pech für das Auto.
4
Wir fuhren mit dem Nahverkehrszug nach Süden. Unterwegs rief ich zu Hause an, dass ich einen Übernachtungsgast aus dem Nahen Osten mitbringen würde.
„Diesen alten Freund, von dem du geredet hast?“, fragte meine Frau. „Kenne ich ihn?“
„In gewissem Sinne ja“, sagte ich, „aber du wirst ihn nicht gleich erkennen. Alles Nähere dann nachher.“
Ich blickte Jeschua von der Seite an. Er trug einen kräftigen Vollbart, wie es inzwischen bei jungen Männern üblich ist, und einen eher kurzen Haarschnitt. Nein, meine Frau würde ihn auf Anhieb nicht erkennen.
Obwohl, an seinen Handgelenken sah ich Narben. Das wäre ein Hinweis.
„Immer noch die Narben?“, fragte ich und deutete auf sein Handgelenk. Inzwischen hat man ja herausgefunden, dass die Nägel damals nicht durch die Handteller getrieben wurden, die wären sofort gerissen. Handgelenke hielten mehr aus.
Er blickte auf seinen Unterarm. „Ja, immer noch die Narben. Ich trage sie wie einen Orden.“
Mir fiel dazu nichts ein. Nach einer Weile sagte er: „Ich werde während der Fahrt so tun, als ob ich schlafe. In Wirklichkeit bin ich woanders. Ist jetzt zu kompliziert, um dir das zu erklären.“
Er lehnte seinen Kopf gegen die Lehne und schloss die Augen.
Als der Schaffner kam, gab ich ihm unser Niedersachsenticket, so brauchte ich meinen Mitfahrer nicht zu wecken.
Der Schaffner hätte es sicher nicht verstanden, wenn ich gesagt hätte: „Neben mir sitzt ein Auferstandener, der gerade eingeschlafen ist.“
Meine Frau holte uns am Bahnhof ab und bemühte sich, höflich und freundlich zu meinem Gast zu sein, der relativ schweigsam war.
Sie zeigte ihm das Gästezimmer und das Bad, und ich hörte, wie sich die beiden eine Zeitlang unterhielten.
Als sie nach unten kam, ließ sie sich auf die Wohnzimmercouch fallen und sagte nur: „Mein Gott, das wird uns niemand glauben! Und diese umwerfende Freundlichkeit!“ Nach einer Weile fragte sie: „Was isst eigentlich so jemand?“
Ich zuckte die Schultern. „Ich glaube alles, was wir auch essen. Er verwandelt Essen in etwas anderes.“
„Das tun wir ja auch.“
„Ich habe ihn aber noch nicht gefragt, ob er einen Magen und Gedärme und so weiter hat …“
„Ist vielleicht eine ziemlich intime Frage. Und was ist mit Duschen?“
„Braucht er wahrscheinlich nicht, und wenn, dann eher mit himmlischem Wasser, mit dem Original.“
„Dem Original?“
„Ja. Unser Wasser ist nur die irdische Variante, eine Art Bleistiftzeichnung von echtem Wasser.“
„Das muss ich nicht verstehen, oder?“
Sonst lief an dem Tag alles ganz normal, außer, dass unser Gast ein seelsorgerisches Naturtalent ist. Wir erzählten ihm abwechselnd unsere Probleme und wurden das Gefühl nicht los, dass uns noch nie jemand so intensiv zugehört hatte.
Nachts hörte ich Geräusche von oben, dort, wo das Gästezimmer ist. Ein hohes, sanftes Klingeln, manchmal einen tiefen Ton wie von einer Orgel. Aber irgendwann schlief ich dann wieder ein.
Natürlich wollte er mit uns in den Gottesdienst. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Wir sind nicht gerade eine Vorzeigekirche und haben ein paar schwierige Zeiten erlebt, aber er versprach mir, sich zurückzuhalten.
„Ich habe kein Interesse daran, die Leute zu verwirren“, meinte er, als er in meinem Pyjama sein Frühstücksei schälte. „Ich rege nur an.“
„Zum Glück läufst du nicht in einem langen Gewand mit Jesuslatschen herum, das könnte manche zum Nachdenken bringen.“
Er lachte: „Also, dass ich in Liedtexten vorkomme, das bin ich ja gewohnt, und diese vielen Bilder und Statuen überall auch einigermaßen, aber dass mein Name für eine Schuhsorte herhalten muss, ist schon bizarr.“
Ich gab ihm nach dem Frühstück ein frisches Hemd und eine von meinen Hosen.
„Was machst du, wenn die Leute dir die Hand geben wollen und denken, du hast Fieber?“, fragte ich, als wir ins Auto stiegen.
„Damit muss ich leben.“
Unsere Kirche ist nicht so groß wie die Marktkirche, aber das schien ihn nicht zu stören. Ich stellte ihn als einen Freund aus Israel vor, was in gewisser Weise ja auch stimmte.
Er verfolgte interessiert den Gottesdienst. Wir singen eine Mischung von neuen und alten Liedern und haben eine Band vorne. In diesem Zusammenhang klang es etwas seltsam, als Jeschua mit uns das Lied sang: Mein Jesus, mein Retter.
Bei uns ist es üblich, dass Gäste ein Grußwort sagen, wenn sie das wollen. Ich hatte leider zu spät daran gedacht, dass Friedhelm an diesem Sonntag die Ansagen machte, der dazu neigte, Gäste nach vorne zu bitten.
Friedhelm fragte doch tatsächlich, ob unser Gast aus Israel nicht ein paar Grüße loswerden wollte und forderte ihn geradezu auf, ans Mikro zu treten.
Jeschua wollte nicht unhöflich sein und marschierte durch den Mittelgang nach vorne. Ich befürchtete Schreckliches.
Jemand, der mit dem Universum verbunden ist, weiß doch, was alles bei uns gelaufen ist, dass wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten, dass einige bis heute im Clinch miteinander waren und so weiter. Im Grunde die üblichen Machtspiele unter dem Deckmantel frommer Worte. Alles keine Dinge, auf die man als Kirchenmitglied stolz sein kann.
Er ging langsam nach vorne, und ich merkte, dass einige Damen ihn interessiert betrachteten. Da erst ging mir auf, dass er wahrscheinlich als Mann eine starke Ausstrahlung auf Frauen ausübte.
Jetzt ist auch alles egal, dachte ich, es kommt, wie es kommt.
Er bedankte sich ganz höflich und sagte, dass er den Eindruck habe, er sei hier willkommen und erzählte von Israel, und dann begann er mit ein paar Sätzen zu erklären, wer Gott ist, dass er die reine Liebe und an allem interessiert sei, was uns bewegt.
„Gott ist nicht der Spielverderber, für den viele ihn halten. Auch wenn er einem hart und gerecht vorkommt, denken Sie daran, es fließt alles aus seiner Liebe. Und er hat einen großen Respekt vor Ihrer Freiheit und lässt viele unmögliche Entwicklungen in dieser Welt zu. Sie können gerne nach dem Gottesdienst zu mir kommen, wenn Sie mal jemanden brauchen, bei dem sie sich aussprechen wollen, ich reise ja wieder ab.“
Dann setzte er sich, aber ich spürte schon, dass die Leute nachdenklich vor sich hinblickten. Es war nicht so sehr der Inhalt, der mich und wahrscheinlich die anderen ebenfalls beeindruckt hatte, das war ja nichts Neues, aber wie er es gesagt hatte …
Während er redete, hatte ich plötzlich das Gefühl, so wie gestern Abend, dass ich ihm alles erzählen könnte, auch die merkwürdigsten Sachen.
Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sich nach dem Gottesdienst eine riesige Schlange von Leuten bildete, die alle mit ihm reden wollten. Das Mittagessen konnten wir knicken.
5
Ansgar fuhr mit dem Finger über die Platte seines Tischchens, während er überlegte. Eine feine Spur blieb auf der Staubschicht zurück. Er wischte mit seinem Ärmel darüber und blinzelte