Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen. Albrecht Gralle
und würde erst gegen halb zwei zurückkommen. Er saß wieder in seinem Sessel, ein Glas Wasser neben sich, und beobachtete das Haus. Heute hatte er herausgefunden, dass es bisher vier blonde Mädchenpaare gab, denn morgens, als der schwarze Volvo vor dem Haus hielt, stiegen zwei neue Mädchen in den Wagen.
Er hatte sich gestern Nachmittag, bevor Frida kam, eine Kamera mit starkem Zoom gekauft und sich einen Ordner zugelegt, in dem er die Bilder und andere Beobachtungen aufbewahren wollte. Durch die digitale Technik konnte er die Bilder gleich ausdrucken und abheften. Er war froh, dass er den Umgang mit dem PC und dem Internet auf seine alten Tage noch gelernt hatte. So konnte er auch mit ein paar Freunden E-Mails austauschen.
„Es ist unglaublich“, murmelte er. Von Weitem hätte man gedacht, dass immer dieselben Mädchen in das Auto stiegen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es verschiedene Mädchenpaare waren. Aber wo kamen sie her, oder wie kamen sie unbemerkt in das Haus? Denn die Mittagsmädchen, die um halb eins gebracht wurden, waren nicht dieselben wie die Morgenmädchen. Das hatte er auch herausgefunden. Er fand es auch merkwürdig, dass die Mädchen schnell im Haus verschwanden und nicht einmal zum Spielen herauskamen. Aber andererseits war es verständlich, denn ihre falsche Identität wäre aufgefallen, wenn sie mit anderen Kindern gespielt hätten. Die Schaukel und das Klettergerüst standen umsonst im Vorgarten.
Vielleicht sind die Spielgeräte nur Attrappen aus Leichtmetall, dachte Ansgar.
„Ich muss irgendwann einen Blick in dieses Haus werfen“, sagte er sich und überlegte, wie er das anstellen könnte. Er brauchte irgendeinen Vorwand, um zu klingeln.
Kurz entschlossen stand er auf, zog seine Schuhe an, verließ seine Wohnung und kaufte im Supermarkt nebenan einen Ball. Er verschmierte etwas Dreck auf der Oberfläche, wischte mit einem Lappen leicht darüber, klemmte sich den Ball unter den Arm, griff nach seinem Stock und ging zu dem Haus hinüber.
Es gab eine Klingel, aber kein Namensschild.
Zaghaft drückte er auf den Knopf. Nichts. Er drückte noch einmal. Diesmal fester und länger. Jetzt meinte er Geräusche zu hören, ein schnelles Tappen von Füßen, das plötzlich verstummte, dann sah er, wie das Licht im Spion sich änderte. Er wurde beobachtet.
Endlich öffnete sich die Tür. Ein Mann mit Anzug und Krawatte stand vor ihm. Es war der Mann, den er neulich mit einer Frau und den zwei Mädchen (welchen?) vor dem Haus gesehen hatte. Der Vater? Der Pseudovater?
War es Absicht, dass er sich so im Türrahmen breit machte, damit Ansgar nicht in das Innere des Hauses blicken konnte?
„Ja?“, fragte der Schlipsträger, und seine Augen bewegten sich rasch hin und her, als wolle er sich vergewissern, dass ihn niemand beobachtete.
„Guten Tag, Herr …?“
Der Mann reagierte nicht.
„Und? Was wollen Sie?“
„Ich bin ihr Nachbar von gegenüber“, sagte Ansgar, „und habe neulich den Ball auf der Straße gefunden. Und da dachte ich mir, er könnte vielleicht Ihren beiden Mädchen gehören.“
Absichtlich ließ er den Ball fallen, sodass er in den Flur rollte und der Mann gezwungen war, sich danach zu bücken.
„Oh, Entschuldigung – ist mir aus der Hand gerutscht.“
Ansgar nützte die Gelegenheit, um einen Blick in den Flur zu werfen.
Was er erkennen konnte, war ein völlig funktionaler Flur. Keine Garderobe, kein Spiegel. Eine Glühbirne hing von der Decke, obwohl die Leute schon seit Wochen darin wohnten.
Der Mann hatte den Ball aufgehoben und gab ihn mit einem mechanischen Grinsen zurück.
„Vielen Dank, der Ball gehört uns nicht.“
„Aber vielleicht wollen Sie die Mädchen fragen, ob er nicht doch ihnen …?“
„Die Mädchen spielen gar nicht mit einem Ball. Sie … sie haben andere Spiele.“
„Ach so“, meinte Ansgar, „na dann …“ Plötzlich kam ihm eine Idee: „Wollen Sie nicht mal einen Nachmittag mit den beiden herüberkommen und mich besuchen? Meine Enkelin ist auch gerade da. Sie ist im ähnlichen Alter. Dann können wir auf eine gute Nachbarschaft anstoßen?“
Der Mann blickte Ansgar an, als sei er nicht ganz bei Trost.
„Nein, vielen Dank, wir sind sehr beschäftigt und legen keinen Wert auf eine enge Nachbarschaft. Auf Wiedersehen!“
Die Tür fiel ins Schloss, und Ansgar stand verblüfft mit dem Ball in der Hand davor.
Auf jeden Fall, dachte er, als er in Gedanken zu seiner Wohnung zurückging, ist das kein übliches Wohnhaus. Irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor.
Er hängte den Mantel an den Haken und ging in die Küche. Zeit, das Essen vorzubereiten. Heute hatte er sich entschlossen, Maultaschen zu kochen. Die Brühe machte er aus einer Instantpackung, schnitt drei Mohrrüben und eine Stange Lauch klein und legte die Maultaschen, die es fertig zu kaufen gab, in die brodelnde Brühe.
Zehn Minuten sollten sie nur leicht kochen, und dann würde alles von selbst gar werden. Das ideale Gericht für ihn. Und Frida mochte es auch. Die Röstzwiebeln aus Dänemark streute man darüber, wenn die Maultaschen im Teller schwammen.
Kurz nach halb zwei kam Frida. Er hatte ihr einen Schlüssel gegeben, weil das Haus keine Sprechanlage hatte.
Sobald sie zur Tür hereinkam, änderte sich die Stimmung in der Wohnung. Sie brachte Wind und Sonne mit.
„Es riecht nach Maultaschen in der Brühe!“, rief sie und warf ihre Schultasche in die Flurecke.
„Richtig!“, nickte ihr Opa und sagte: „Hände waschen, und dann wird gegessen.“
Frida war ein Einzelkind. Ansgars Tochter Uta und ihr Mann Sören hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, aber es war bei diesem einen Kind geblieben. Manchmal schien es ihm, als ob sich alle Energie in diesem Mädchen geballt hätte. Frida war aber deswegen nicht unruhig. Manchmal konnte sie stundenlang konzentriert bei einer Bastelei sitzen oder ein Buch lesen, aber wenn sie von irgendetwas gepackt war, dann sprühte sie förmlich vor Unternehmungsgeist.
Ihre Frisur änderte sie fast jeden Tag. Die halblangen schwarzen Haare konnte sie in alle möglichen Formen bringen. Heute trug sie Pferdeschwanz.
Ansgar stellte den dampfenden Topf auf den Tisch, neigte seinen Kopf und betete: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“
„Amen!“, rief Frida und plapperte gleich los: „Was hast du denn heute so gemacht, Opa?“
„Na ja“, brummte er, „ehrlich gesagt nicht viel. Ich war einkaufen, hab mich kurz mit den neuen Nachbarn unterhalten, etwas gelesen und für uns gekocht. Weißt du, bei mir geht alles etwas langsamer und gemütlicher ab. Und du?“
Frida zerteilte eine Maultasche mit dem großen Löffel und steckte den einen Teil genießerisch in den Mund.
„Deutsch, Englisch, Mathe, Bio. Uff! Ich finde, im Gymnasium muss man irgendwie mehr lernen als in der Grundschule.“
„Klar“, nickte ihr Großvater. „Das schaffst du nicht mit Links.“
Sie löffelten eine Zeitlang stumm die Maultaschensuppe. „Du, Opa?“
„Ja?“
„Warum beobachtest du denn so genau das Haus gegenüber?“
Ansgar erstarrte. Er durfte sich jetzt nichts anmerken lassen.
„Mich interessiert eben die neue Nachbarschaft.“
„Und warum fotografierst du das Haus und die vielen Mädchen?“
„Woher weißt du das?“
„Hm, du weißt ja, ich bin total neugierig. Und als ich heute Nacht aufgewacht bin, habe ich ein bisschen herumgeschnüffelt und deinen Ordner entdeckt.“
Ansgar