Trilogie des Mordens. Ulrich W. Gaertner
halten es für möglich, das sich die Blausäure, also Cyanwasserstoff in einer kleinen Kapsel befunden hat und nach deren Zerstörung frei wurde, also bei Körper- oder Raumtemperatur verdampft ist.“
„Das würde implizieren, dass der Tote die Kapsel in den Mund genommen und zerbissen haben hat, wenn er denn Suizid begehen wollte.“
„So wie die Nazi-Größen nach dem Krieg“, wirft Jens Ehlers ein, der dunkelhaarige Hauptkommissar, der ein ruhiger und sehr zuverlässiger Ermittler ist.
Das Schrillen des Telefons unterbricht die Unterhaltung.
„Kripo Lüneburg, Erstes Fachkommissariat, Kluge.“
Die Stimme eines unbekannten Sprechers ist leise zu hören. Kluge deckt die Sprechmuschel ab.
„Die Zeitung, unser Starreporter“, flüstert er.
„Ich grüße Sie, Herr Meierhof.“
Dann können die Ermittler an Hand der Antworten ihres Leiters mit verfolgen, was die örtliche Presse interessiert.
„Wir stehen noch am Anfang, Herr Meierhof, und wir müssen erst das Obduktionsergebnis vorliegen haben, bevor ich zur Todesursache etwas sagen kann.“
Das ist der abschließende Satz, bevor Kluge mit höflichem Abschiedsgruß auflegt. Die Zuhörer grinsen, als Kluge den Faden wieder aufnimmt und sich an Gebert wendet.
„Ich glaube, für heute ist dein Redebedarf gedeckelt, mein lieber Mike. Hilf uns jetzt lieber bei der Syllogistik, was den möglichen Handlungs- oder Tatablauf angeht. Ihr habt mit bekommen, dass Meierhof am Ball ist. Der fragt morgen früh wieder nach.“
Der Angesprochene hat den Rüffel seines Chefs verstanden.
„Davon ausgehend, was unser K-Leiter schlussfolgert, hätten im Mund der Leiche Rückstände oder Spuren zu finden sein müssen. Oder auch in der Speiseröhre. Soviel ich über diese Form der Vergiftung weiß, vergehen bis zum Todeseintritt und völliger Reaktionslosigkeit doch noch einige Sekunden.“
„Mit anderen Worten“, schaltet sich Ehlers ein, „würde das für Schlucken oder Inhalation von kleinsten Teilchen, angenommen Glassplittern, völlig ausreichen.“
Alle blicken gespannt auf Scharnhorst.
„Tatsache ist, dass bei der ersten Untersuchung von Mundhöhle, Rachenraum, Speise- und Luftröhre keinerlei Fremdkörper gefunden wurden.“
Kluge fasst den Vortrag zusammen.
„Das macht das Ganze nicht leichter. Fakt ist jedoch, dass die Todesursache in der Inhalation des Cyangases zu suchen ist. Natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten der Zerstörung eines Behältnisses. Heutzutage müssen solche Minibehälter auch nicht mehr aus Glas sein. Mir fallen da die Kapseln für Infarktgefährdete ein, die nach dem Zerbeißen Nitroglyzerin freisetzen.“ Kluge blickt Scharnhorst fragend an.
„Auch so etwas konnten die beiden Obduzenten in den Verdauungsorganen nicht nachweisen. Und ihr wisst, die Doktoren sind sehr genau und wissen, wonach sie suchen müssen. Ich sag mal so: Wenn irgendwelche körperfremden Rückstände vorhanden gewesen wären, unsere Gerichtsmediziner hätten sie gefunden.“
Erneut öffnet sich die Tür.
„Soll ich euch noch Kaffee aufsetzen, Bernhard?“ Die fürsorgliche Frage kommt von Ronda Kubitzke, der einzigen Angestellten im Kommissariat. Sie ist zuständig für die Tagebuchführung, das Ein- und Austragen von Vorgängen, das Anfertigen von Diktaten, sowie zeitweilig für das Kochen von Kaffee.
Erstaunlich und überraschend für alle diese Frage, so kurz vor Feierabend. Kocht ihn euch doch selbst, lautete manches Mal die schnippische Antwort von Ronda, wenn sie zuvor ein schwieriges Gespräch mit ihrer Schwiegermutter per Telefon hinter sich gebracht hat. Und das drei Mal in der Woche. Heute ist sie anders. Das Wochenende steht vor der Tür. Die Vertretung für ihre Schreibtätigkeit am Samstag ist geregelt.
„Okay, Ronda, das hört sich gut an. Ja, setze bitte noch eine Kanne auf. Wir unterbrechen für fünfzehn Minuten.“
Kluge erhebt und streckt sich. Ein langer Tag seit heute Morgen. Langsam werde ich müde.
Alle Mitarbeiter außer dem Spurensicherer stehen ebenfalls auf.
„Winfred, wenn der Kaffee aufgesetzt ist, könntest du Ronda noch die WE – Meldung, wichtige Eilmeldung, diktieren, bevor sie entschwindet? Text in etwa: Unbekannter Toter im ICE von Berlin nach Frankfurt/Main. Erstes Ermittlungsergebnis: Suizidverdacht, Fremdverschulden zur Zeit nicht ausgeschlossen oder so ähnlich. Du weißt schon. Deine Unterschrift und das Ganze in der üblichen Form, damit die im Ministerium in Hannover auch zufrieden ins Wochenende gehen können.“
Im Polizeikommissariat Hann. Münden, in der Welfenstraße 3 herrscht am Freitagmorgen Hochbetrieb. Die kleine Dienststelle gehört zur Polizeiinspektion Göttingen und betreut den gesamten Landkreis, der im Norden an den der Stadt Göttingen angrenzt. Zwei schwere Verkehrsunfälle von der vergangenen Nacht machen viel Arbeit, einer ereignete sich auf der Bundesstraße 3, kurz hinter Dransfeld, der andere auf der Bundesstraße 80 zwischen Vaake und Reinhardshagen. Die Beamten der Nachtschicht sind noch mit dem Ausfüllen der Unfallanzeigen beschäftigt.
Um zwanzig Minuten vor acht betritt eine jüngere Frau den gesicherten Eingangsbereich des Gebäudes. Durch das schussfeste Glas blickt sie erstaunt auf das hektische Treiben in den Diensträumen. Dann hört sie durch die Sprechanlage eine ruhige und sympathische Stimme.
Hinter dem Panzerglas steht ein Polizeibeamter in einem exzellent gebügelten, grüngelben Diensthemd mit je drei silbernen Sternen auf den Schultern und einer maßgeschneiderten Hose. Freundlich fragt er die frühe Besucherin „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun Frau …?“
„Lindholm, Karin Lindholm von der Kanzlei Schubert & Schubert. Mein Mann ist nicht nach Hause gekommen.“
Die Miene des Beamten wird ernst.
„War Ihr Mann heute Nacht mit dem Auto unterwegs?“
„Nein, nein. Eigentlich sollte er heute Nacht mit dem ICE in Göttingen ankommen.“
Karin Lindholm knetet aufgeregt die Hände.
„Da bin ich aber froh für Sie“, sagt der Beamte freundlich. „Wir hatten heute Nacht zwei schwere Verkehrsunfälle mit mehreren Verletzten. Ich dachte schon, Sie wären eine Angehörige. Umso besser. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie Ihren Mann als vermisst melden. Ist das so?
Lindholm beginnen die Beine zu zittern. Gleich nach dem Aufstehen hatte sie zweimal im „Plaza“ in Berlin angerufen. Erst beim zweiten Mal, unter Hinweis auf ihre Tätigkeit in der Anwaltskanzlei, hatte sich der Frühportier bemüht, seine Meldeliste durchzusehen. Auf ihre hartnäckigen Fragen hatte er beschwörend gemeint, dass ein Hans-Georg Lindholm nicht im Hotel übernachtet hat, auch keine anderen Angehörigen der Firma „Marks“ aus Frankfurt.
Der aufmerksame Beamte betrachtet die müde aussehende Frau prüfend.
„Ja, das möchte ich.“
Der stehen plötzlich Tränen in den Augen.
„Einen Moment bitte, ich lasse Sie herein.“
Benommen registriert sie den Türsummer.
„Kommen Sie bitte, Frau Lindholm.“
Der Mann führt sie in ein übersichtlich eingerichtetes Büro.
„Bitte nehmen Sie Platz. Ich glaube, ein Kaffee würde Ihnen gut tun. Und dann wird sich ein Mitarbeiter der Kriminalpolizei um Sie kümmern. Ich bin der Leiter hier und muss zusehen, dass die Kriminalität in unserer schönen Stadt an den drei Flüssen nicht überhandnimmt.“
Dabei lacht er und weiße, gepflegte Zähne werden sichtbar. Schnell ist er aus der Tür. Wenig später erscheint eine junge Uniformierte mit einer Tasse Kaffee.
„Mein Chef hat mich geschickt. Ich soll den hier loswerden.“