Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil
geblieben. Vor allem, weil an der Uni total viel Wert auf Latein und alles gelegt wurde. Das war doch ein bisschen zuviel. Deswegen auch der Entschluss, Arzt zu werden. Und hier bin ich nun!“
„ABER DU BIST KEIN ARZT!“, prustete Pfeffer heraus.
Briefke setze erneut sein Glas ab und steckte sich mit langsamen Bewegungen eine Pfeife an. „Ich will Dich mal was fragen Richard: Hast du ein Abitur?“
„Was soll das! Nein! Das weißt Du doch!“, knurrte Pfeffer und zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an.
„Und warst Du jemals auf einer Journalistenschule?“
„Nein, war ich nicht!“
„Hast Du sonst irgendeine Ausbildung gemacht, die Dich zum Redakteur qualifiziert hätte?“
„Nein.“
„Und trotzdem warst Du, trotzdem bist Du Journalist!“
„Ja.“
„Na eben! Und jetzt ganz im Ernst: Glaubst Du, dass Du ein schlechter Journalist bist?“
„Nein, das glaube ich nicht!“
„Ganz genau! Du hast kein Abitur, keinerlei journalistische Ausbildung, und trotzdem bist Du Chefredakteur geworden und hast in Bremen mit Deinen Artikeln für einigen Wirbel gesorgt. Du hast die Auflage verzehnfacht. Die Einnahmen verfünffacht. Das hast Du alles ganz allein geschafft. Eigentlich, wenn man so will, bist Du noch viel mehr Journalist als alle anderen mit Ihren anständigen Lebensläufen, Laufbahnen, Ihren tollen Zeugnissen und Abschlüssen. Jetzt stell Dir nur mal vor, was aus Dir geworden wäre, wenn Du auch noch die entsprechenden Ausbildungen erhalten hättest. Nicht auszudenken. Aber jemand wie Du, Richard ... Menschen wie wir beide brauchen diese Ausbildungen gar nicht. Wir müssen keine Diplome verliehen bekommen, um zu wissen wie es geht. Das ist es, was uns von der ganzen tumben Masse abhebt, die Ihr Leben lang irgendwelchen Auszeichnungen und Titeln hinterher hechelt, anstatt sich lieber auf das Ziel zu konzentrieren! Wir brauchen das alles nicht, Richard. Und weißt Du, warum nicht? Weil es uns im Blut liegt, weil wir dazu geboren sind. Frag’ mal meine Patienten, da wirst Du nur Gutes über mich hören. Keine Kunstfehler, keine falschen Behandlungen, immer astreine Arbeit! Es gab in der ganzen Zeit, in der ich praktiziere nicht eine einzige Beschwerde gegen mich. Und der Mensch an sich ist ohnehin immer bereit, genau das zu glauben, was er sich wünscht. Wenn man die entsprechende Leidenschaft und Intuition mitbringt, wenn man bereit ist, für das was man liebt, alles zu geben, dann braucht man diese ganzen Schriftstücke gar nicht, auf die diese abgehalfterte deutsche Bürokratie so viel Wert legt. Man muss dafür geboren sein. Das können Dir noch so viele Jahre an Schulen und Universitäten nicht geben. Nimm zum Beispiel Adolf Hitler. Der hatte nicht einmal einen Führerschein! Und was war der?“
„Führer“, sagte Pfeffer.
„Quod erat demonstrandum!“, rief Briefke und warf seinen Oberkörper vor Lachen mit einem triumphalen Ausdruck in die Lehne des Sessels, nahm sein Weinglas und hielt es Pfeffer zum Prosit entgegen. Pfeffer konnte zwar nur erahnen, was dieses „Quod erat demonstrandum“, bedeutete, aber es reichte ihm, um zu verstehen, was Gert Briefke, was Dr. Clemens Bartholdy versucht hatte ihm zu erklären. Seinerseits nahm er nun sein Glas und stieß mit Briefke klirrend an.
„Ach und übrigens“ Gert Briefke schien noch eine Kleinigkeit vergessen zu haben, „von wegen Eier-Roll-Methode und so. Weißt Du, wie ich das mittlerweile mache?“
Pfeffer hatte keine Ahnung.
„Pass auf, das ist der absolute Oberknaller, besser geht es überhaupt gar nicht. Ich bin drauf gekommen, als ich mal ein paar beglaubigte Zeugnisse abliefern musste, eine Approbationsurkunde und so. Wenn Du da was selbst Gebasteltes ablieferst, merken die das sofort. Die sehen jeden Tag so ein Zeug. Aber dann kam mir die Idee: ich habe in Berlin angerufen, bei irgendeiner größeren Stempelfirma, aber nicht zu groß. Ich habe dann gesagt, ich bin Oberstaatsanwalt Dr. von Berg und dass ich Beauftragter der Materialverwaltung beim Bundeszentralregister bin. Da war der Typ von der Stempelfirma schon so fickerig, der hätte alles gemacht, weil der schon den fetten Auftrag gerochen hat. Ich dann so: Es ist hier an der Zeit, ein paar Dinge neu zu organisieren, und dass wir mit unserem bisherigen Lieferanten total unzufrieden sind und so weiter, also kurz und gut, wir bräuchten einen neuen Generallieferanten und eben seine Firma sei in der engeren Auswahl. Es muss nur noch geprüft werden, ob die Qualitätsansprüche mit seinen Stempel in Einklang gebracht werden können. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell der mir einen Termin gegeben hat. Ich bin dann da hin, habe ihm zehn verschiedene Stempel auf irgendwelchen offiziellen Papieren als Probe hingelegt und gesagt, ich brauche von jedem Exemplar erst mal einen Probestempel. Und was glaubst Du? Zwei Tage später hatte ich alle offiziellen Stempel der Bundesrepublik! ORIGINAL! Geil, oder?“
Briefke war so zufrieden mit sich selbst, dass er die Weingläser erneut füllte und Rick Pfeffer doppelt zuprostete, bevor die beiden sich eine kurze Weile einem genüsslichen Schweigen hingaben.
„Und sag’ mal“, begann Pfeffer nach dieser kurzen Weile und einem langen Schluck von dem Rotwein, „was machst Du denn jetzt? Also ich meine, wie hast Du Dir das alles vorgestellt? Wie soll das weitergehen? Willst Du das für immer so durchziehen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Briefke und machte eine wegwischende Handbewegung in den Raum hinein. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, bis zur Rente hier in Flensburg zu versauern. Vielleicht gehe ich noch mal woanders hin. Momentan überlege ich, ob ich mir vielleicht noch einen Dr. phil. zulege. Diese ganze Amtsarzterei ist einigermaßen mühsam, wie Du Dir vorstellen kannst. Na ja, wie gesagt. Ich weiß noch nicht, mal sehen!“
„Aber ist das nicht anstrengend? Ich meine, die ganze Zeit zu lügen?“
Briefke schien entsetzt! „Ich muss doch nicht lügen, Richard. Ich bin Dr. Clemens Bartholdy. Ich trage nicht nur seine Schuhe oder so, ich bin es! Das ist doch keine Lüge! Ich will Dir mal was über Lüge und Wahrheit erzählen, Richard. Kennst Du Dich mit dem Herzen aus?“
„Es geht, nein eigentlich nicht. Ich befürchte, ich habe einige gebrochen, aber mehr auch nicht!“
„Casanova! Aber wie auch immer, das Herz ist die zentrale Versorgungsstelle des Körpers, eine leistungsfähige Pumpe, Blut strömt rein, Blut strömt raus. Ein absolut neuralgischer Punkt und neben Darm und Hirn eine der drei Schaltzentralen unseres Körpers. Ohne Blut, könnten wir nicht existieren, aber auch Blut wäre nutzlos, wenn es nur so in den Venen und Arterien herumdümpeln würde wie das Brackwasser in der Bremer Förde. Also pumpt das Herz fleißig im Rhythmus zu Systole und Diastole, das sind die beiden Vorgänge: Systole – Blut strömt raus, Diastole - Blut strömt rein. Und könnte es etwas Gegensätzlicheres geben als das? Der eine Vorgang füllt das Herz mit Blut, mit Leben, mit Vitalität, nur damit der andere Vorgang es ihm nur eine halbe Sekunde später schon wieder entzieht. Welch tantalusischer Vorgang, nicht wahr? Immer nur für den Bruchteil einer Sekunde bekommt das Herz seinen Treibstoff, die Essenz seiner teleologischen Existenz zu Gesicht, nur um es dann gleich wieder verabschieden zu müssen. Es wird geschenkt, und im selben Moment bereits wieder entzogen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen! Nun könnte man sagen: das ist ja furchtbar, wie gemein! Aber als Fachmann, als Mediziner weißt Du, dass es nicht aus Niedertracht geschieht, sondern weil etwas viel Größeres, Bedeutenderes damit am Leben erhalten wird, nämlich der Organismus, den das Herz versorgt. Der Körper, die Krone der göttlichen Schöpfung! Systole und Diastole dienen, obwohl grundverschieden und absolut gegensätzlich, demzufolge beide derselben Sache. Sie stellen sich in den Dienst von etwas Größerem und werden dadurch untrennbar miteinander verbunden, wie die beiden sprichwörtlichen Seiten ein und derselben Medaille, ja, sie sind sogar vollständig abhängig voneinander, da gibt es nicht gut oder schlecht. Genau so wie bei der Wahrheit und der Lüge. Wenn alles Wahrheit wäre und nichts mehr Lüge, dann verliert die Wahrheit zwangsläufig jedwede Bedeutung. Oder ums es ganz poetisch zu sagen, mein lieber Richard: Wahrheit und Täuschung liegen wie Systole und Diastole immer nur einen Herzschlag weit auseinander!“
Nachdem Briefke im letzten Teil des Gesagten noch eine bedeutungsschwangere Pause eingelegt hatte, bevor