Fallsucht. Lotte Bromberg

Fallsucht - Lotte Bromberg


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daß es bei ihm gewaltlosen Schutz und gute Rendite gab, und so standen die Unabhängigen Schlange, um in seine Familie aufgenommen zu werden. Erwin wußte um seine in mancher Hinsicht begrenzten Kapazitäten, beließ die Hühnerschar im einstelligen Bereich, akzeptierte fremde Reviere und Gehege, ignorierte Brutalitäten und Ungerechtigkeiten außerhalb seines Radius’ und hatte so Auskommen und Frieden.

      Bis er eines Nachts einen sterbenden Kollegen im Rinnstein fand.

      Dieser Kollege nahm, wozu er Lust hatte, prügelte sich beeindruckend erfolgreich Konkurrenten vom Hals, zog seine Mädchen an Haaren von erigierenden Nebenverdiensten und soff halb Berlin unter den Tisch. In jener Nacht war er auf einen Kollegen getroffen, der gar nicht erst versuchte, seine Gitti mit schmalen Fäusten gegen den legendären Boxer zu verteidigen, sondern gleich ein Messer zog und es, da er ein sicherheitsverliebter Mensch war, gleich zwölf Mal in des Konkurrenten Männlichkeit rammte. Er sah auf den zusammengesunkenen, ehemals starken Mann, dachte an Gittis monatlichen Durchschnittsverdienst, rotzte auf den Besiegten und ging seiner Wege.

      Erwin rief, als er vier Minuten später den Blutenden fand, den Notarzt, war sich sicher, der Mann stürbe in seinen Armen und nahm ihm seine unverständliche Lebensbeichte ab. Im Notarztwagen hielt er seine Hand, lauschte schweigend den stotternd hektischen Anweisungen des Sterbenden, entließ ihn fast leergeblutet in den OP und wartete besudelt auf die Nachricht seines Ablebens.

      Die Ärzte entfernten seinen völlig zerhackten Hoden, flickten den Penis notdürftig zusammen, so daß er wenigstens zum Pinkeln hielt, kippten literweise Blutplasma in ihn hinein und baten Erwin, als seinen Angehörigen, um seelische Unterstützung beim Klammern an das Restleben des Kastrierten.

      So bekam Erwin anstatt kleiner Schwestern einen hilfsbedürftigen Bruder ohne Einkommen. Der Mann erholte sich, sank in sentimentale Anfälle und wurde vorübergehend weibisch. Sie gaben seinem schlaffen Schwanz und ihm den Namen Tülle, bewarben sich mit Erwins Kopf und Tülles immer noch starker Faust bei MM als Türsteher und wurden genommen.

      Über die Jahre wurden sie zu Mitgliedern der Familie Herzl, fuhren in ihrer pinkfarbenen Corvette den kleinen Samuel zu Kindergarten und Schule, wiesen breitschultrig finstere Gesellen von der Tür, gewährten Mädchen der Umgebung nach Feierabend Schutz und Erholung in der Bar und wurden zu Charlottenburger Legenden.

      »Haben sie denn noch Kontakt zu den Mädchen?«, fragte Jakob.

      »Sicher, das ist eine richtige Fangemeinde. Ich werde ihnen sagen, daß der Auftrag von Dir ist, das wird sie freuen.«

      »Aber das ist nicht so richtig offiziell.«

      »Lad’ sie zum Essen ein und der Fall ist erledigt.«

      Jakob zog ein weiteres Photo hervor. »Und noch was. Ich möchte wissen, ob ein Mädchen diesen Typen kennt.«

      MM nahm das Photo. »Schönes Gesicht. Sieht gebildet aus.«

      »Professor für Teilchenphysik.«

      »Und deshalb sollen die Mädchen ihn kennen?«

      »Seine Frau sieht aus, als wäre sie beteiligt gewesen an Versuchsreihen. Jahrelang. Als physikalisches Objekt.«

      MM zog eine Augenbraue hoch.

      »Zigaretten, eine Peitsche, Drahtschlingen.«

      MM sah erneut auf das Photo. »Ein schöner Sadist also. Man weiß nie, was sich zeigt, wenn die Pelle ab ist von dem Früchtchen.«

      Sie legte das Photo zu den anderen. »Ich leite es weiter. Das wird aber dauern. Mädchen, die sich quälen lassen, waren nie in unserer Nähe. Völlig andere Liga. Harte Aufpasser, hoher Durchlauf. Aber wir versuchen es. Schließlich muß er da erst mal rangekommen sein.«

      »Und hat auf dem Weg vielleicht Spuren hinterlassen.«

      Sie sah Jakob an. »Was ist mit seiner Frau, ich nehme an, sie ist tot, wenn Du das bearbeitest, sollen wir da auch nachfragen?«

      Jakob nickte. »Vielleicht kennst Du den Fall, schließlich ist Informiertsein Dein Beruf. Letztes Jahr Ostern hat jemand ihr Leben in einer Havelhütte ausgepustet.«

      »Ach, die Geschichte, war das nicht in Schlachtensee? Ich erinnere mich, ziemlich blutige Angelegenheit. Davon war dann verdächtig schnell nichts mehr zu hören. Und jetzt sollst Du ran, der Geisterseher?«

      Jakob verdrehte die Augen.

      »Laß den Leuten ihren Gruselschauer. Gibt’s ja sonst nicht viel in unserer braven Gegenwart. Nebenbei, wenn sie das alles klaglos ertragen hat, fragt sich, ob es eine Vorgeschichte gibt.«

      »Sicher. Und das deutet auf das Milieu, obwohl sie mir nicht aussieht wie eine Ex-Prostituierte.«

      »Ach, Jakob, was glaubt ihr bloß immer. Ein paar Jahre und Du siehst nix mehr.«

      »Trotzdem.« Jakob stand auf.

      »Aber gehen darfst Du noch nicht. Deine Haare sehen kriminell aus, Kommissar. Du bist eine Schande für meinen Berufsstand.«

      »Ich verwechsle in letzter Zeit öfter mal oben und unten. Kann sein, meine Haare vertragen die Richtungswechsel nicht«,sagteJakob und ließ sich wehrlos zum nächsten Stuhl führen.

      Auf dem Deckel eines Gerichtsklos hatte Jakob schon lange nicht mehr gesessen. Noch dazu mit angezogenen Beinen. Pubertäre Erinnerungen stiegen in ihm auf.

      »Komm’ schon, Alter, verdienst was besseres, als mir beim Kacken zuzusehen. Das Fenster ist auch vergittert, wir sind ja schließlich nicht im Kino. Außerdem ist meine Klappe viel zu groß für den Untergrund, also mach’ die Handschellen auf und geh’ eine rauchen.«

      Jakob hörte sich öffnende Handschellen und eine zufallende Tür.

      »Kommissar, bist Du da?«

      »Du hast mich schließlich eingeladen«, sagte Jakob.

      »Kannst rauskommen, mein Kumpel bewacht die Tür.«

      Jakob ging in den Vorraum und lehnte sich an den eiskalten Heizkörper unter dem vergitterten Fenster.

      »Den hast Du total beeindruckt. So still war er lange nicht. Stimmt das, daß Du den ganzen Flur voller Bücher hast, bis unter die Decke? Und für schwul hält er Dich auch, vielleicht wegen der Bücher. Bist Du schwul, Kommissar?«

      Jakob lachte. »Wieso, willst Du mit mir was anfangen?«

      »Nix für ungut, aber ich sehe neuerdings überall Schwule. Man denkt ja, man war jahrelang blind, wenn es die Familie trifft«, sagte Wladimir. »Aber jetzt mal zum Ernst des Lebens, Kommissar. Ich fürchte, da läuft ein ganz mieses Ding, Du mußt mir helfen.«

      »Erzähl, was ist los?«

      »Die Szene, in der wir uns netterweise kennengelernt haben ...«

      »Deine Geiselnahme.«

      »Meinetwegen. Davon gibt es einen Film.«

      »Wie meinst Du das?«

      »Wie ich es sage. Ich habe das alles gefilmt, mit meinem Handy.«

      »Warum das denn?«

      »Keine Ahnung, einfach so.«

      »Wolltest Du Deine Heldentaten für die Nachwelt erhalten? Du spinnst doch.«

      »Darum geht es jetzt nicht, sondern darum, daß die meisten der feinen Lehrer Scheiße erzählen, ich hätte mit einem Messer hantiert und Dich gewürgt und so, und der Film das beweist.«

      »Dein Handy ist ein Beweisstück.«

      »Genau.«

      »Und wo ist das Problem? Das kann Dich doch nur entlasten.«

      »Es ist nicht da.«

      »Verstehe ich nicht.«

      »Kein Handy, weit und breit.«

      »Das gibt’s doch nicht.«

      »Und ob.«

      »Hast


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