Das Ehepaar und ANDERE Geschichten. Annerose Scheidig
die Mutter die zornige Frage stellte: „Warum schmeißt ihr sie nicht raus, wenn ihr euch so aufregt?“
Sie hörte die Oma antworten: „Wer nimmt sie, wer weiß, wo sie bleibt. Sieh, die Kinder, ist das nicht schlimm genug? Wie oft sind sie alleine. Hier guckt wenigstens mal einer nach ihnen. Michael, der arme Tropf, ist schon verstört genug!“
Dann wurde leiser gesprochen, was Anna neugieriger machte. Sie musste das Ohr an die Tür legen, um besser verstehen zu können. Aber das mochte sie eigentlich nicht, darum entschied sie, einfach wie gewohnt in Omas Wohnung zu gehen, um den Dreien ein bisschen näher zu sein.
Leider ohne Erfolg; das Gespräch wurde abrupt beendet. Wenn sie noch mehr erfahren wollte, musste ein Plan her und sie beschloss, sich mit Elke anzufreunden.
Elkes verrücktes Wesen war aber leider extrem anstrengend. Sobald sich Anna ihr näherte, lief diese wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Also begann Anna, Elke weniger zu beachten und suchte den Kontakt zur Dagmar. Ihre Gedanken dabei waren, Elke aus den Augenwinkeln zu beobachten, um zu sehen, wie sie reagieren würde.
Dagi zögerte, sie wollte sich auf Anna einlassen, blieb aber durch Elkes Gegenwart gehemmt. Elke hielt Abstand und musterte Anna, was Anna genoss, aber nicht so recht verstand, schon gar nicht die drohenden Blicke Dagi gegenüber.
Anna bat ihre ältere Schwester Lina um Rat. Lina meinte mit ablehnender Handbewegung: „Wenn du mit Elke spielen willst, gehst du am besten morgens nach oben. Die Alte schläft dann. Die ist nachts auf Ritt und kommt erst morgens, so gegen fünf, nach Hause. Elke kann dann nicht abhauen, sie muss auf Mike aufpassen. Der hat einen ganz schönen Knall, der rastet oft aus, und Dagi ist ein Angsthase. Da muss Elke hinhalten, damit die Alte pennen kann!“
Anna erschrak über diese Art von Erklärungen nicht mehr. Sie bekam immer häufiger mit, wie mal schlecht, mal gut über Frau Ilona Rose gesprochen wurde, je nach Stimmung im Haus.
Eines Morgens schlich Anna mit starkem Herzklopfen die steile Holztreppe nach oben. Sie wusste genau welche Stufen knarrten. Mühevoll überstieg sie diese; niemand durfte vorgewarnt werden. Doch dann verließ sie der Mut und sie rannte wieder nach unten in die elterliche Wohnung. Dort warf sie sich aufgeregt in den Wohnzimmersessel. Glücklicherweise war niemand da; denn sie schämte sich fürchterlich für ihre Feigheit.
Den Kopf in beide Händen versteckt, schrie es in ihr: „Nein, ich bin nicht feige, nein, nein, nein!“
Am nächsten Morgen startete sie den zweiten Versuch. Sie schlich, mit etwas weniger Herzklopfen als am Vortag, die steile Holztreppe nach oben. Zaghaft klopfte sie an die Tür.
Keine Reaktion.
Mutig klopfte sie das zweite Mal fester.
Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Michael stand direkt vor ihr und sechs weit aufgespannte Augen starrten sie an.
Jetzt gibt es kein Zurück, dachte Anna panisch und rief schnell ein freundliches „Guten Morgen“ über Michaels Kopf in die Stube hinein.
Sogleich wurden die Blicke eine Spur ängstlicher und bohrender. Anna sah schnell ablenkend zu Michael hinunter.
Ein plötzliches und liebenswürdiges „Komm doch rein“ erinnerte Anna, warum sie überhaupt an diese Tür klopfte.
„Ich, ich wollte mal gucken, wie, wie es euch, äh, Ihnen geht“, stotterte Anna sich ertappt fühlend.
Die Frau und Mutter, die eigentlich schlief, bot ihr schlaftrunken einen Platz am Tisch an: „Magst du ein Brötchen? Hier ist Wurst, da Käse. Möchtest du Milch oder Kaffee?“
Anna lehnte dankend ab.
Frau Rose schwankte im Morgenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt, ungekämmt, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, plump auf ihren Stuhl zu. Neben ihrer Kaffeetasse standen ein Schnapsglas und eine fast leere Schnapsflasche. Gutmütige müde Augen musterten den Gast; hängende Mundwinkel bliesen den Zigarettenqualm an ihm vorbei. Das Gesicht der Frau sah jetzt noch älter aus.
Der Frühstückstisch war maßlos vollgepackt. Nur der Duft von frischen Brötchen verbreitete einen Hauch Gemütlichkeit. Etwas verstört lehnte Anna nochmals das Angebot etwas zu essen ab.
Jetzt saß auch sie, wie die anderen, stumm auf dem Stuhl und wagte sich kaum zu rühren. Elke und Dagmar wichen wie gewohnt zurück, guckten ins Leere. Michael legte seinen Kopf auf den Schoß der Mutter.
Anna fühlte sich wie ein Eindringling. Verlegen sah sie in die Runde, sah die Frau hilflos an, die mit heiserer Stimme versuchte, diese seltsame Situation zu erklären, wobei sie Anna immer wieder Schnaps und Zigaretten anbot. Doch Anna lehnte wiederholt freundlich ab.
Frau Rose stutzte dann für einen Augenblick, wohl flüchtig erkennend, dass sie doch keine erwachsene Person vor sich hatte.
Nach solchen Unterbrechungen erzählte die Frau verzweifelt weiter: vom Schmerz, vom Zorn über die DDR und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Dabei liefen ihr erneut ein paar Tränen über die Wangen, und die Zigarettenzüge wurden hastiger.
Sie erwähnte Heidrun, ihr erstes Kind, das sie seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen hatte und nach dem sie sich schrecklich sehnte. Als die Mauer von einem Tag zum anderen gebaut wurde, war sie im Westen auf Arbeitssuche, Heidrun im Osten bei den Großeltern. Sie konnte nicht zurück, hatte aber versucht, die Tochter zu sich herüberzuholen. Doch plötzlich brach der Kontakt ab, zu den Eltern, zu dem Kind; ihrer aller Leben war in Gefahr gekommen. Später habe sie nichts mehr über sie in Erfahrung bringen können. Der ganze Schmerz, diese schreckliche Ungewissheit, was warum geschah, brachte sie fast um. Letztendlich scheiterte ihre Ehe daran.
Anna war vollständig überfordert: Osten, Westen, DDR, Gewalt, Mauerbau, Flucht, Todesangst, Heidrun, noch ein Kind, Scheidung, Unrecht, alles Worte, die in ihrer noch Kinderseele Schmerz hervorriefen. Sie verstand nichts, sah die Tränenflut der Frau, der Mutter, die Menge an hastig gerauchten Zigaretten und die immer wieder angebotenen Schnäpse.
Irgendwann stand Frau Rose auf, bedankte sich für das Zuhören, sagte, dass sie jetzt schlafen müsse und schleppte sich ins Zimmer nebenan.
Anna blieb allein zurück. Die anderen hatten sich längst davongeschlichen.
Bestürzt, aber leise, verließ Anna den Raum. Das gerade Erlebte wollte sie nicht stören. Tiefes Mitgefühl überfiel sie. Sie nahm es mit, ebenso den Zorn und die Wut über ein Land, das in sich gespalten schien, Familien zerstörte, unsagbares Leid hervorrief.
Anna war gerade zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem geteilten Deutschland hörte, und sie erfuhr soeben, was eine durch Gewalt bewirkte Trennung auslösen konnte.
Und am nächsten Tag erlebte Anna, wie eine Frau nicht die Frau ist, die sie wirklich war, als sich beide im Treppenhaus begegneten. Frau Rose war wieder Frau Ilona Rose, hübsch gekleidet und geschminkt, die Haare flott frisiert, ein Lächeln im Gesicht mit der stets wiederkehrenden Frage: „Wo ist deine Schwester? Ich höre sie so gerne lachen.“
Mit dem Essen im Tank
über gelbgereiften Mais
der Hunger sieht zu
Begegnung im Aufzug
„Pssst!“ Das war das Erste was sie wahrnahm, als sich die Aufzugtür öffnete. Ihr gesenkter Blick, der den korrekten Einstieg nicht verfehlen wollte, erhob sich langsam und vor ihr standen vier Personen mit Aktenkoffern und Schultaschen.
Zwei Personen durfte sie schon vor ein paar Tagen kennen lernen. Es waren Mitschülerinnen der Umschulungsmaßnahme, die sie zurzeit besuchte.
Die Tür schloss sich wieder. Die Gespräche setzten sich erneut und gleichzeitig mit dem Fahrstuhl in Gang. Die beiden Aktenkofferträger tauschten einige Worte miteinander, räusperten sich kurz und schwiegen wieder. Die beiden Damen flüsterten unentwegt weiter,