Das Ehepaar und ANDERE Geschichten. Annerose Scheidig
die mit Nachdruck Sprechende nur unschwer ein gewisses Desinteresse erkennen. Was hätte die Zugestiegene von den Gesprächsfetzen im Fahrstuhl auch halten sollen?
Und doch, dieses „Pssst“ machte Margarete unfreiwillig neugierig. Sie ahnte, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte. Bei nächster Gelegenheit würde sie die kleine dunkelhäutige Schönheit selbst danach fragen. Das nahm sie sich fest vor, in der Hoffnung, diese erinnere sich auch an diesen Augenblick.
Der Aufzug hielt eine Etage tiefer als die Drei auszusteigen hatten. Hier befand sich das Büro der Geschäftsleitung der Maßnahme, die die Schülerinnen besuchten. Bis auf Margarete und die zierliche Gestalt stiegen alle aus, auch Sandra, sonderbarerweise. Das war der perfekte Zufall, die erhoffte Gelegenheit, gleich nachzufragen. Und irgendwie schien zwischen den beiden Frauen ein unbewusstes Vertrauensverhältnis zu bestehen, denn die hübsche Rassige erklärte sogleich und leicht verlegen, dass sie Araberin sei.
„Na und?“, fragte Margarete überrascht. „Musst du dich dafür schämen? Du kannst eh nicht verheimlichen, dass du südländischer Herkunft bist. Dich verrät schon allein deine Haut, dein rassiges Aussehen.“ Dabei lächelte sie die andere an und fügte hinzu: „Okay, genau zuordnen könnte ich dich allerdings nicht. Aber was soll’s? Mir ist das nicht wichtig!“
Kurze Pause.
„Du sprichst ein sehr gutes Deutsch. Da könnte ich glatt vergessen, dass du Araberin bist.“ Margarete lächelte ihre Mitschülerin erneut freundlich an. Sie wollte noch einmal unterstreichen, dass es ihr wirklich nichts ausmachte, dass die Abstammung der Anderen, eine andere als die ihre ist; auch wollte sie in der Unterhaltung bleiben.
Die junge Frau lächelte zurück und erklärte stolz: „Wir leben schon viele Jahre in Deutschland. Ich habe hier von Anfang an die Schule besucht . . .“
Beide schwiegen plötzlich und lauschten fragend dem Fahrgeräusch des Aufzugs nach. Irgendetwas schien hier nicht mehr zu stimmen. Der Fahrstuhl hielt in der elften Etage, öffnete die Tür, doch niemand stieg ein und sie beide mussten hier nicht raus. Also drückte eine von ihnen wieder die Acht und sie warteten, was wohl als nächstes passieren würde.
Margarete erkannte das als ein Zeichen; also sprach sie schnell und genau das an, was sie sich vorher noch nicht zu fragen wagte: „Sag mal, warum solltest du vorhin nicht weitersprechen, als ich den Fahrstuhl betrat?“
Die junge Frau, fasst noch ein Mädchen, sah verlegen zu Boden, verstummte für einen Moment und meinte schließlich kaum hörbar: „Wegen des Golfkriegs, den USA und, und überhaupt . . . Es ist mein Land, aus dem ich komme, mein Land!“
„Hm und was hast du, ich meine, du persönlich damit zu tun?“, wollte Margarete jetzt wissen. „Hast du den Krieg begonnen, gewollt, etwa verursacht? Hast du irgendwie, irgendwas zu verantworten?“, fragte sie, die jetzt Tiefbetrübte ihr gegenüber stehend, erstaunt weiter.
„Sandra meinte, ich könnte eventuell genau deswegen Nachteile in der Klasse haben, dass ich vielleicht ausgegrenzt werde. Die Gespräche laufen nur noch um den Golfkrieg, man ergreift Partei, urteilt und verurteilt.“
„Ja sicher tun sie das, ist doch klar! Aber um Partei zu ergreifen, muss man sich schon recht gut auskennen. Und dann hat das mit dem Einzelnen immer noch nichts zu tun!“
Margarete war jetzt etwas aufgebracht, und leicht säuerlich auf Sandra, wegen dieser dummen Bemerkung.
Immer diese Vorurteile, dieses Einschüchtern! Wird das nie ein Ende haben? Was um alles in der Welt kann das Volk schon ausrichten, wenn die Politik versagt, wenn sie Krieg führen will. Es werden immer die Schwachen zu Opfern werden, wenn Mächtige ihre Macht beweisen wollen, ging es Margarete durch den Kopf.
Und, schnell noch ein paar Worte, ungestört: „Du, wir müssen gleich aussteigen. Nur mal kurz eine Frage. Glaubst du an Gott?“
„Ja!“
„Dann weißt du sicher auch von Adam und Eva!“
„Ja!“
„Siehst du, und so sind wir doch letztendlich alle Schwestern und Brüder!“
„Ja.“
„Das ist für mich die Basis, worauf ich erst einmal aufbaue, wenn ich Fremde kennen lerne. Was kümmert es mich, wenn sich andere streiten? Lassen wir, du und ich, uns unsere Freundschaft friedlich beginnen, ohne Angst, ohne Vorurteile. Dann werden wir weitersehen.“ Margarete sah ihre Mitschülerin aufmunternd an; die hübsche Rassige erwiderte irgendwie befreit ihren Blick.
Der Aufzug blieb endlich auf der richtigen Etage stehen und die beiden Frauen konnten knapp vor Unterrichtsbeginn den Klassenraum betreten. Sie lächelten sich noch einmal kurz zu, bevor sie ihre Plätz einnahmen.
An diesem Vormittag flogen etliche Tornados in den Süden.
Kühler Geisteswind
weht aus allen Richtungen
vertreibt Nestwärme
Die filmreife Tante Gertrud
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, ist für mich, ich wurde im Sternzeichen des Löwen geboren, das Gefühl in die Enge getrieben zu werden, etwas ganz furchtbar Schlimmes, kaum auszuhalten. Und wenn ich dann tagtäglich diese schrecklichen Dinge in der Tageszeitung lese - was so alles in den Städten passiert - fühle ich mich gar nicht mehr wohl.
Diese niedergeschriebenen Tatsachen, dass wir, die Passanten, meist achtlos vorübergehen, wenn Menschen sich aggressiv verhalten, oder wir schlagen andere Wege ein, tun so, als würden wir nichts sehen oder hören, erzeugt in mir auch keinen Mut.
Also habe ich mich heute mit dieser Problematik auseinandergesetzt und mich ernsthaft gefragt: „Hast du den Mut, notfalls dazwischen zu gehen, irgendjemand in einer brenzligen Situation zur Hilfe zu eilen?“
Und ich komme zu dem Entschluss: „Nein, das käme für mich nicht in Frage: Weggucken, nicht reagieren, davon laufen. Nein!“
Dennoch beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Schon alleine die Vorstellung, ich wäre in dieser Zwangslage: Helfen oder wegsehen?
Und zum ersten Mal bin ich wirklich froh und dankbar, dass ich bis zur Stunde noch nie in solch eine Verlegenheit gekommen bin.
Das war gestern, also Vergangenheit! Und es dauerte nicht lange, da steckte ich mittendrin.
Es war ein ganz normaler Tag, ohne Regen, fast nur Sonnenschein. Mein Mann und ich konnten endlich, mit der kranken und pflegebedürftigen Tante Gertrud, 82 Jahre alt, zur Stadtverwaltung fahren. Sie benötigte dringend einen neuen Personalausweis, den galt es zu beantragen.
Weil die Tante gehbehindert war, nahm sie ihren Stock an die eine Seite und mich an die andere Seite. Ich achtete darauf, dass sie sicher ging und vor allem nicht zu schnell. Denn mit ihrem Temperament konnte sie nur schwer gebremst werden, obwohl sie auch herzkrank war. Also unterhielten wir uns dementsprechend ganz langsam, bewusst dem Schritt angepasst. Ich war also mit der Tante extrem beschäftigt. Mein Blick war mehr bei ihr als in der Umgebung.
Es war stille, wir konnten die Vögel in den Bäumen und Büschen hören, ein lauer Wind umgab uns. Vor uns ging im Schlenderschritt ein junger dunkelhäutiger Mann her. Ich nahm ihn nur nebenbei gedanklich wahr; mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.
Doch plötzlich hob die Tante ihren Stock und rief furchtbar aufgeregt: „Guck mal, wat iss da denn los? Die schlagen sich!“ Ich sah erschreckt auf und ich konnte einen zweiten jungen Mann erkennen.
„Ach nein“, sagte ich, „die kabbeln miteinander, sicher nur im Spaß!“
„Nee, nee, guck doch. Die schlagen sich!“, wiederholte die Tante jetzt lauter.
Für mich sah das im Moment so aus: Zwei junge Leute haben sich nach langer Zeit zufällig wiedergetroffen. Und