Phalansterium. Matthias Falke
gar nichts«, sagte John. »Es regt nur an.«
»Dann bringt jeder seine Visionen selbst hervor.«
»Es ist eine telepathische Induktion«, erklärte er. »Jeder wird in einen bestimmten Zustand versetzt, eine Art mentaler Schwingung. Aber es ist kein Übertragung. Für das, was er in diesem Zustand erlebt, ist jeder selbst verantwortlich.«
Ich kaute auf dieser Erkenntnis herum wie auf einem Steak, das zu lange in der Pfanne gewesen war.
»Bist du in der Lage, über Zthronmia zu reden?«, wandte sich John an Jennifer.
»Kommt darauf an.«
»Diese Box, in die du deine Hand stecken musstest.«
»Ja.«
»Auch sie hat Schmerz nur induziert. Nur natürlich in Anführungszeichen. Ist das richtig?«
»Ich habe keine physische Verletzung erlitten«, sagte Jennifer mechanisch. Es war ihr anzumerken, dass sie Auskunft gab, ohne die Erinnerungen selbst in sich Gestalt annehmen zu lassen. Es war eine Gratwanderung. Und das wenige Tage nach dem Kollaps. Sie war noch in der Rekonvaleszenz! Ich überlegte, ob ich John das Thema verbieten sollte.
»Es geht schon«, sagte Jennifer, als habe sie meine Gedanken mitgelesen. »Ich glaube ich weiß, was du meinst.«
»Es wurden Impulse in die Nerven induziert. Die Empfindung Schmerz hat dein Organismus selbst hervorgebracht. In letzter Instanz dein Gehirn.«
»Und das passiert bei den kuLau«, sagte ich, um Jennifer aus der Schusslinie zu holen. »Sie setzen uns einem Feld aus, in dem wir selbst anfangen zu halluzinieren?«
»Ich denke, dass es auf der rein physischen Ebene so abläuft, ja.«
»Aber das ist gefährlich«, rief ich in verspäteter Empörung. »Jennifer hätte es fast das Leben gekostet! Sie hätten uns vorher warnen müssen.«
»Offenbar war ihnen selbst das Risiko der Auswirkungen nicht bekannt. Vielleicht ist unsere Spezies in besonderer Weise empfänglich dafür.«
»Hast du auch G.R.O.M. interviewt«, fragte ich. »Oder Micromegas? Oder die Tloxi?«
»Noch nicht«, sagte er. »Aber ich gebe zu, dass das jeweils sehr interessant wäre.«
»Das kannst du ja noch nachholen.« Jennifer ließ sich in die Kissen zurückfallen.
»Ich denke, es ist gut für heute«, sagte ich rasch.
»Entschuldigt«, nickte John. »Ich wollte euch nicht strapazieren.« Er stand auf. »Allerdings werdet ihr zugeben, dass das ganze faszinierende Perspektiven ermöglicht.«
»Im Guten wie im Bösen«, murmelte Jennifer.
***
Die Sonne wurde mir zu stark. Ich drehte mich um und wies ihr den Rücken. Die Nordseite des kleinen Talkessels, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, wurde von einer mächtigen Felswand bestimmt. Zwei Wasserfälle sprühten davor herab. Am Fuß der Wand breitete sich ein flacher Hügel aus, sattgrün in der senkrechten Bewässerung. Darauf erhob sich ein kleines Tempelchen. Auf der anderen Seite kam der Fluss durch eine Bresche in den steilen Felsfluchten und beschrieb einen weitausholenden Mäander, der den ebenmäßigen, fast kreisrunden Talboden aufspannte. Eine Moräne, die unterhalb davon aus einem Seitental in die Schlucht vorgetrieben worden war, riegelte das Ensemble nach Süden ab. Eine Landschaft von vollkommenen Proportionen, wie geschaffen, um darin zu meditieren.
Die Einheimischen hatten den Platz Dal genannt, das hieß Jennifer zufolge so viel wie »heilige Stätte«.
Ich dachte an das Dorf, in dem wir noch ein paar Lebensmittel eingekauft und uns nach dem weiteren Weg erkundigt hatten. Auch dort hatte es nicht an Warnungen gefehlt, wie sie uns während des Anmarschs ständig entgegen geklungen waren. Wir hatten sie in den Wind geschlagen. Was sollte schon geschehen! Doch jetzt tönten sie grell vor meinen geistigen Ohren wider. Ich unterdrückte den Impuls, nach Jennifer zu rufen. Am Ende saß sie irgendwo hinter einem Felsblock und wartete genau darauf. Aber es fiel mir von Minute zu Minute schwerer, meine innere Unruhe zu bezähmen. Es war fast Mittag, die Sonne strebte dem höchsten Punkt ihrer spätsommerlichen Bahn zu. Die Firne der Berggiganten, die sich ringsum in den stahlblauen Himmel erhoben, brannten in schmerzhaftem Weiß. Aus dem Augenwinkel fing ich eine Bewegung auf. Ich fuhr herum und versuchte, den Eindruck zu fixieren. Dann sah ich es: viele tausend Meter über mir hatte sich an einem der Hängegletscher ein Eisbalkon gelöst und brandete als wolkenförmige Staublawine zu Tal. Es war zu weit entfernt, um mir gefährlich werden zu können. Der stumpfe Donner, den die Explosion auslöste, drang mit beeindruckender Verspätung an mein Ohr. Lange saß ich da und sah zu, wie die Kissen aus pulverisiertem Eis sich ausbreiteten, immer noch eine Steilwand und noch eine überfluteten und endlich hinter bewaldeten Vorbergen verschwanden. Eine glitzernde Staubfahne hing noch lange in der Luft und zeichnete die Strudel und Wirbel des Höhenwindes nach, der sich vor jenen Urgesteinsriesen staute und brach. Auch der mahlende Donner rollte noch lange in der engen Talschaft wider. Dann war es wieder ganz still.
Ich dachte an die Freunde. Wo mochten sie sein? Wir hatten uns in alle Winde zerstreut. Wir waren wie ein Kometenkern, der beim Durchgang durch den sonnennächsten Punkt zerbrochen war. Die Trümmer blieben zunächst beieinander. Sie formten eine Wolke, denn noch immer gehorchten sie den gleichen Kräften, folgten derselben Bahn. Doch nach und nach trieb es sie auseinander, die Drift begann sie zu zerstreuen. Die Wolke dehnte und zerdehnte sich. Einzelne Brocken blieben übrig, die weit voneinander durch die Leere zogen. Einst waren sie eins gewesen. Jetzt erinnerten nur noch die Parameter des Radars daran, dass sie einmal ein und demselben Impuls gefolgt waren.
Der Kontakt war abgebrochen. Jennifer legte Wert darauf, während der Wanderung und während unseres gesamten Aufenthaltes auf diesem Planeten offline zu sein. Ich war zwar glücklicher Besitzer einer Kommunikationsvorrichtung, aber wesentlich weiter brachte mich das auch nicht. Sowie wir in die tief eingesägte Schlucht des Masyan vorgedrungen waren, war der lokale Funkkontakt zum Raumhafen abgebrochen. Dort war das einzige Relais gewesen, dass uns mit dem Rest der Welt verband. Der Planet besaß kein Satellitennetz. Wir waren abgeschnitten.
Ab und zu drang eine komprimierte Nachricht durch, die irgendwie ihren Weg über Dutzende Verteilerstationen gefunden hatte und die sich erst einmal umständlich entpacken musste. So blieb ich einigermaßen auf dem laufenden. Jennifer trug demonstratives Desinteresse an diesen Meldungen zur Schau. Ich rief sie heimlich ab. Ohnehin wurden die Funksprüche immer spärlicher, im Stil lakonischer. Nach und nach meldeten sie sich alle ab. Sie zerstreuten sich über die Galaxis. Reynolds war der einzige, von dem noch halbwegs konsistente Bulletins eintrafen. Rogers, Jill und Taylor, Laertes – sie alle verschwanden in einem Raum des Schweigens, der tiefer und finsterer zu sein schien als selbst eine ganze Galaxie. Es war, als hätten sie aufgehört zu existieren. Mit unserem Entschluss, den Dienst bei der Union zu quittieren, waren wir unter einen Ereignishorizont hinabgetaucht, den nichts durchdringen konnte. Es wurde finster und ganz still.
***
Am nächsten Morgen holte ich Jennifer ab. Sie wurde entlassen, und zwar im doppelten Sinn. Zum einen aus der Krankenstation, wobei der behandelnde Arzt mir noch einmal einschärfte, sie sei alles andere als geheilt, zum anderen aus der Union, der sie dreißig ihrer Jahre als Pilotin und Wissenschaftsoffizierin gedient hatte. Ich hatte sie bis zuletzt angefleht, diesen Schritt zurückzustellen und die Wirkung des Urlaubs abzuwarten. Aber das wies sie scharf von sich. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie wollte einen freien Horizont.
Natürlich war es schade. Die Union war ihr Leben gewesen. Sie war die beste Pilotin und eine der brillantesten Wissenschaftlerinnen gewesen, die diese große Institution je in ihren Reihen gehabt hatte. Aber jetzt war es zuende. Das musste man akzeptieren. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie ernst es ihr damit war, ihr Zusammenbruch auf der Hochzeit de kuLau hatte ihn erbracht.
Wir gingen auf unsere Kabine und richteten die Sachen, die ich für die Exkursion vorbereitet hatte.
»Tut es dir leid«, sagte sie, als wir mit allem fertig waren und ratlos auf unseren