Im Januar trug Natasha Rot. Manfred Eisner
sich der Einfahrt, Wlado blickt auf den Monitor. „Ach, da ist sie schon!“ Er drückt auf einen Knopf, das Tor öffnet sich und schließt sich automatisch, nachdem der schwarze Kastenwagen in die Halle gefahren ist. Eine schlanke weibliche Figur steigt aus. Sie ist in einen Monteuranzug gekleidet und hat ihren Kopf ebenfalls mit einer Sturmhaube vermummt. Wlado hebt grüßend den Arm und zeigt dann in Richtung des Badezimmers. Zu Alexej gewandt sagt er: „Dobre, Alexej. Du fährst jetzt weiter nach Gütersloh zum Abladen. Der Chef ruft dort morgen an und sagt dir, wie es weitergeht. Gute Fahrt! Do powachennya!“
„Auf Wiedersehen“, grüßt Alexej aus dem heruntergelassenen Seitenfenster seines DAF zurück. Dann manövriert er diesen langsam rückwärts hinaus auf den Vorhof, wendet und verlässt das Grundstück.
Etwa eine halbe Stunde später verlässt auch der schwarze Ford Transit das Lagerhaus. Auf der B 76 fährt er über Eckernförde nach Rendsburg und dann auf der A 7 weiter nach Flensburg.
Alina, Olga, Jana und Jelena sitzen eng gedrängt nebeneinander auf einer Viererbank auf der Ladefläche des Transporters und sind mit Handschellen aneinandergefesselt. Alle sind auffallend hübsch und haben wohlgeformte Körper. Alina ist noch nicht ganz sechzehn, Jana und Olga sind es bereits. Jelena ist mit siebzehn die Älteste. Arglistige Schlepper haben sie mit dem Versprechen auf gut bezahlte Arbeitsplätze in deutschen Hotels und Restaurants aus ihren armseligen Dörfern in der Ostukraine gelockt. Eine fesch aussehende Frau hat sie dann in einer schmucken Limousine bei ihren Familien abgeholt und ihnen sogar einige Tausend Hrywja in die Hand gedrückt, um, wie sie vorgab, deren Abschiedsschmerz etwas zu mildern. Den Text der „Quittung“, die man ihnen hierfür zur Unterschrift vorlegte, haben sie nicht verstanden oder konnten ihn sowieso nicht lesen. Darin hatten die Eltern ihren minderjährigen Töchtern unwissentlich die Zustimmung für deren Ausübung von „Haushaltsdiensten jeglicher Art“ im Ausland erteilt. Die naiven Mädchen wurden, nichts Böses ahnend, aus ihren Heimatorten über viele Hundert Kilometer zunächst nach Vilnius gebracht, wo sie zum ersten Mal aufeinandertrafen. Dort wohnten sie in einem alten, aber geräumigen und nett möblierten Haus. In einem Frisörsalon verpasste man ihnen modische Haarschnitte und in dessen Kosmetikabteilung brachte man ihnen zudem bei, sich vorteilig zu schminken und attraktiv zurechtzumachen. Während ihres vierzehntätigen Aufenthaltes bekamen sie nicht nur einige modische Dessous und Kleider geschenkt, sondern absolvierten tagtäglich vier anstrengende Stunden deutschen Sprachunterricht. Am Ende der Ausbildung fuhr die bislang immer noch fröhliche Gruppe zusammen mit ihrer Ausbilderin Natalja nach Klaipéda, wo sie in einem Hotel übernachteten. Man bat sie um ihre Reisepässe, denn man wolle für sie im Deutschen Konsulat Visum und Arbeitserlaubnis einholen. Die Pässe haben sie bisher nicht zurückbekommen. In deren Getränken verabreichte man ihnen beim Abendessen eine größere Dosis K. O.-Tropfen. Groß waren der Horror und ihre Verzweiflung, als sie einige Stunden später aufwachten und sich in dem hölzernen Käfig wiederfanden. Während sie hilflos gewesen waren, hatte man ihnen dickere Trainingsanzüge und Mützen angezogen und sie dann in Wolldecken eingehüllt. Nur alle zwei Stunden leuchtete von oben eine schwache Birne für etwa fünf Minuten auf sie herab. In einem Regal erspähten sie dann ein paar Plastikflaschen mit Mineralwasser und einige in Folientüten gehüllte belegte Brote. In der Ecke befand sich eine Chemietoilette für die Notdurft, darüber surrte leise ein Klimagerät. Dann war wieder totale Finsternis. Die zwanzigstündige Reise über die aufgewühlte Ostsee war Jana und Olga nicht gut bekommen, sie hatten sich mehrmals übergeben. Alle leiden auch jetzt noch unter üblen Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen – die Nachwirkungen der Bewusstsein beraubenden Substanz.
Der schwarze Transporter fährt vorsichtig durch die enge Durchfahrt auf einen Hinterhof in der Voigtstraße, manövriert dann rückwärts in eine Doppel-Tiefgarage, deren Tür sich nach der Einfahrt sofort wieder herabsenkt. Als sich die Hecktür zum Laderaum öffnet, kommen zwei Frauen, eine jüngere und eine etwas reifere, und befreien die vier immer noch verwirrten Mädchen von ihren Fesseln.
„Hallo, ich bin Natasha und das ist Tatjana. Willkommen in Flensburg!“, sagt die in einem kirschroten, sehr eng anliegenden Hosenanzug gekleidete und sehr attraktive Frau auf Russisch.
Dann helfen sie den Mädchen aus dem Wagen und lenken sie durch die rückwärtige Ausgangstür zur Treppe, über die sie in das Obergeschoss gelangen. Man führt sie in einen größeren Schlafsaal, in dem sechs Betten aufgestellt sind. Zwei davon sind offensichtlich schon belegt, allerdings liegt zurzeit niemand darin.
„Habt ihr Hunger, wollt ihr etwas essen oder trinken?“
Die vier Neuankömmlinge schütteln die Köpfe.
„Mineralwasser steht dort im Kühlschrank. Dann legt euch hin und schlaft euch erst einmal ordentlich aus. Dort drüben ist das Badezimmer. Morgen früh sprechen wir weiter. Spokoynoy nochi und angenehme Träume!“ Natasha und Tatjana verlassen den Raum und schließen die Tür.
Alina folgt ihnen mit dem Blick und bemerkt, dass diese keine Klinke auf der Innenseite hat. „Wir sind hier gefangen!“ Um ihre Aussage zu bestätigen, hören sie das Geräusch eines Riegels, der zugeschoben wird. Alina wirft sich auf eines der Betten, vergräbt das Gesicht in dem darauf befindlichen Kissen und weint bitterlich.
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Der Erlass des liberalisierten Prostitutionsgesetzes durch den Deutschen Bundestag im Jahr 2002 bescherte der Liebesdienerinnen-Branche – ganz entgegen der ursprünglichen Erwartung der Gesetzgeber – fröhlichen „Freudenhaus-Wildwuchs“ und in dessen Folge eine erhebliche Zunahme des Menschenhandels in den verschiedenen deutschen Bundesländern. Hatten unsere Legislatoren mit der Gesetzesnovelle in bester Absicht geglaubt, den schnöden Betreibern des organisierten Sexgewerbes ein Hindernis in den Weg gelegt zu haben, geschah in der Tat das krasse Gegenteil. Nicht zuletzt im Bundesland Schleswig-Holstein floriert seitdem das älteste Gewerbe der Welt auf höchstem Niveau, wenn man dabei überhaupt von „Niveau“ sprechen darf. Begünstigt durch die Grenznähe zu Dänemark – wo dessen Ausübung im Gegensatz zu den restlichen skandinavischen Ländern zwar erlaubt ist – sowie den kurzweiligen Fährenverkehr aus Schweden und Norwegen [Länder, in denen die Prostitution gesetzlich strengsten untersagt bleibt und seit 1999 sogar nur die Freier bestraft und vom Fiskus zur Kasse gebeten werden oder etwa ins Gefängnis müssen], geht es hier im Lande in Sachen käufliche Liebe ziemlich locker zu. In den meisten größeren Städten sowie rings um die Fähr-Anlandungshäfen wachsen Bordelle, Laufhäuser und Straßenstriche rasant. Erst sehr zögerlich bemerkt man in der Bundes- und den Landeshauptstädten, was da so alles vorgeht, und die ersten Kritiker melden sich zurück. Wegen des bestehenden föderativen Gesetzeswirrwarrs zwischen Bund und Ländern, wobei in einigen der Letzteren inzwischen Politiker verschiedener Couleur laut um eine Konzessionspflicht von Erotik-Etablissements hin und her ringen sowie Menschen- und FrauenrechtlerInnen die Würde der im Gewerbe tätigen Sexarbeiterinnen einfordern, hat es bislang – abgesehen von den üblichen und hohlen politischen Willenserklärungen – keine konkreten gesetzlichen Konsequenzen gegeben. Alle Landeskriminalämter beklagen angesichts der zunehmenden Gewalttaten jener kriminellen Schlepperbanden, die laufend für den Bordell-Nachschub sorgen, das Fehlen gesetzlicher Befugnisse, um diese Umtriebe unter Kontrolle zu halten. Sie schätzen, dass 95 Prozent dieser Frauen entweder durch falsche Versprechungen angelockt oder mittels Erpressung, Misshandlung und Gewalt zur Ausübung der Liebesdienste gezwungen werden.
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Ein blassblauer Neonschein umrahmt die verdunkelten Fensternischen an der Fassade sowie an der dezenten „Moonshine Club“-Leuchtschrift über der massiven Eichentür des Nachtlokals. Es ist ein rundum schick renoviertes Alt-Backsteingebäude, das sich deutlich von den restlichen maroden und vernachlässigten Häusern in dieser Altstadtgasse Flensburgs abhebt. Drückt der Besucher den neben dem Eingang angebrachten goldenen Klingelknopf, unter dem eine übersichtliche Plakette anmahnt, dass hier der Zutritt „Ausschließlich für Clubmitglieder“ gestattet sei, erforscht ihn zunächst das inquisitorische Auge einer ferngesteuerten Kamera. Dann meldet sich eine melodische weibliche Stimme, die den Gast um sein geheimes Passwort bittet. Bevorzugte Mitglieder besitzen allerdings hierfür eine Chipkarte, die sie in einen Schlitz einfügen. Erst danach öffnet sich ihnen lautlos die Tür, die sich nach deren Eintritt sofort wieder schließt. Ein roter