Im Januar trug Natasha Rot. Manfred Eisner

Im Januar trug Natasha Rot - Manfred Eisner


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nimmt sich mal wieder ihr Tagebuch vor, denn sie hat einiges nachzuholen. Nachdem Oma Clarissa schon seit ihrer frühen Jugend die für sie bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut und gelegentlich Tochter und Enkelin daraus vorgelesen hatte – Nili hatte daraus so viele interessante Begebenheiten aus der Familiengeschichte, aber auch von den ereignisreichen Tagen der Flucht aus Nazi-Deutschland und aus dem bolivianischen Exil der Großeltern, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver erfahren –, regte sie dies ungemein an, selbst diesem Beispiel Folge zu leisten. So hatte sie seit ihrem ersten Jahr am Hamburger Gymnasium damit begonnen und in unregelmäßigen Abständen immer dann jene erwähnenswerten Erlebnisse festgehalten, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und vor allem wegen eines damals unglücklich verlaufenen und für sie schmerzhaft beendeten Liebesverhältnisses hatte sie das Tagebuchschreiben für längere Zeit unterbrochen. Als sie einige Jahre später zur Kriminaloberkommissarin befördert worden und dann auch nach Oldenmoor zurückgekommen war, nahm sie sich fest vor, dieses wieder mit größerer Regelmäßigkeit aufzunehmen. Seitdem hält sie vor allem jene interessantesten Fälle schriftlich fest, mit denen sie in Berührung kommt. Allerdings nicht mehr handschriftlich, sondern sie tippt ihre Aufzeichnungen jetzt auf dem Laptop und speichert sie gesondert auf einer eigens dafür bestimmten und zur sicheren Aufbewahrung getrennten Festplatte.

       Frag ich mich ehrlich, liebes Tagebuch, ob ich glücklich bin, muss ich die Antwort in zwei Hälften teilen. Zunächst die schöne Hälfte, die persönliche. Ja, ich bin überglücklich! Dass Waldi und ich endlich zueinandergefunden haben, ist ein wunderbares Erlebnis! Wir verstehen uns einmalig gut, unsere Treffen sind herrlich harmonisch und amüsant. Unser Intimleben ist einfach himmlisch, auch in dieser Hinsicht ist unsere Beziehung ein Volltreffer! Es ist wunderschön, gelegentlich in der Früh aufzuwachen, den Geliebten neben sich zu fühlen und ihn anzusehen, während er noch im Schlaf versunken ist. Ich glaube auch oft zu erahnen, von welchen Erlebnissen er gerade träumt; das in seinem Gesicht angedeutete Lächeln sagt mir, es sind schöne Szenen, die sich da in seinem Gehirn abspielen. Wenn ich mich dann bei ihm unter seiner Decke einkuschele, dauert es nicht lange, bis seine starken Arme sehnsüchtig nach meinem Körper tasten und seine gierigen, heißen Lippen meine Brüste liebkosen. Er vermag es, mich im Nu zu erregen und es dauert nicht lange, bis wir beide, wunderbar gleichzeitig, beim explosionsartigen Höhepunkt angelangt sind (schäm dich, Nili, wie kannst du überhaupt so etwas schreiben!). Waldi hat mich für meine bisherige und ziemlich lang andauernde sexuelle Enthaltsamkeit großzügig entschädigt! Kurzum, wir sind sehr glücklich miteinander! Allerdings schleicht sich bei mir im Hintergrund immer die böse Angst um den Geliebten ein! Aber es ist bei Waldi sicherlich genauso, wenn er an mich denkt. Wir haben eben beide einen – wie heißt es so schön in der Amtssprache? – mit erhöhtem Risiko behafteten Beruf. Und mit diesem Stichwort komme ich zur zweiten Hälfte, der weniger zufriedenstellenden. Meine Versetzung zum Dezernat 22 – Wirtschafts-, Korruptions- und Umweltkriminalität – kam für mich aus heiterem Himmel und ohne jegliche Vorwarnung und ich nehme dies meinem vormaligen Chef wirklich ein wenig übel! Nun, ich habe Verständnis für den Engpass, die Aktendeckel der unerledigten Fälle türmen sich auf dem Schreibtisch meiner neuen Kollegin KOK Engel meterhoch – ist nicht übertrieben! Dennoch, ich habe mich bei dem früheren Aufgabenbereich im Dezernat 21 – Organisierte und Drogenkriminalität – eher besser aufgehoben gefühlt und hatte mich zudem bereits gut in der Materie eingearbeitet. Waldis Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar erfreute mich riesig, die war schön längst fällig. Dass Waldi aber jetzt noch zusätzlich sozusagen mein Vorgesetzter wurde, war natürlich ebenfalls nicht vorauszusehen (man stelle sich das nur einmal vor: Unzucht mit Abhängigen! Pfui Deibel!). Nein, im Ernst, in dieser Beziehung macht es für mich allerdings meine Versetzung erträglicher. Nur ein Einwand, Euer Ehren: Von Wirtschaft habe ich wirklich null Ahnung! Also, Nili, was soll’s! Ran an die neue Aufgabe!

      „Moin, Anne!“ Nili hängt ihren mit Fell gefütterten Regenmantel und die nass gewordene wollene Pudelmütze in den Kleiderschrank. „Ein scheußliches, nasskaltes Wetter ist dies!“ Sie holt ihren Becher mit der Aufschrift ‚Mi querido tinto‘ (Mein geliebter Schwarzer), den sie von Leutnant Sandra García in Kolumbien zum Abschied geschenkt bekommen hat, aus ihrer Plastiksteige und geht an die Kaffeemaschine. „Darf ich?“

      „Nur zu, Nili, jede von uns kauft abwechselnd ein Pfund Darboven’s Classic, in Ordnung?“

      „Aber natürlich.“ Nili nickt. „Ich bin einverstanden, der schmeckt wirklich gut.“

      „Und ist obendrein noch magenfreundlich!“

      „Was soll ich tun, Anne? Um die Wahrheit zu sagen, ich habe von dem hier“, sie zeigt auf den Aktenstapel, „überhaupt keine Ahnung.“

      „Das hatte als Anfänger hier auch so gut wie niemand, Nili. Macht dir keinen Kopf. Schnapp dir einfach die oberste Akte und fang an zu lesen. Darin steht so manches, und wenn du nicht weiterkommst, frag einfach. Dann sehen wir gemeinsam rein, okay?“

      Nili folgt Annes Ratschlag. Der erste Fall befasst sich mit einer Reihe von zuletzt Geschädigten des infamen „Enkeltricks“. Das Schema ist immer das gleiche: Die meist alleinstehenden Senioren erhalten einen Anruf von einer Person, die sich ihnen als ihr Enkel oder ihre Enkelin ausgibt. Den Namen erfahren die Gangster meistens vom Geschädigten selbst, der so in etwa fragt: „Bist du das, …?“, worauf der Anrufer dies nur bejahen muss und über den Namen im Bilde ist. Ahnungslos werden die alten Menschen manches Mal um ihr gesamtes Sparvermögen betrogen, wenn sie, nachdem sie von der Notlage oder der einmaligen Kaufgelegenheit des Verwandten erfahren haben, zur Bank gehen, das benötigte Geld abheben und dies dann aufgrund verschiedener Tricks oder sogar durch gewaltsamen Raub an die Verbrecher verlieren. Trotz wiederholter Warnungen der Polizei, des Fernsehens und in Zeitungen fallen immer wieder hilflose alte Menschen den in der Türkei, Rumänien oder Bulgarien beheimateten Banden zum Opfer. Die Geldabholer – angeblich ist der betreffende „Enkel“ beziehungsweise die „Enkelin“ in diesem Moment ernsthaft verhindert – schnappen sich die Beute und verschwinden spurlos jenseits unserer Grenzen. Zu fassen, wenn überhaupt, sind lediglich die Handlanger, die nur in den seltensten Fällen irgendwelche nützlichen Angaben zur Verfolgung der Übeltäter in ihren Heimatländern preisgeben.

      Nachdem Nili das Dossier durchgelesen hat, fragt sie: „Also, Anne, was mache ich jetzt mit dieser Enkeltrick-Akte? Ist doch ziemlich hoffnungslos, das Ganze. Und ich glaube kaum, dass wir hier etwas Wirksames unternehmen können, oder?“

      Anne reicht ihr ein Formblatt über den Tisch. „Hast recht, Nili. Bitte Aktenzeichen, die Schadensummen, sofern sie erfasst wurden, und die Anzahl der Fälle hier eintragen. Das Blatt voran ablegen. Aktendeckel in die Post zur Auswertungsstelle.“

      „Und was wird aus den armen Opfern?“

      „Die schauen traurig in den Mond, was sonst?“

      Und so geht es in etwa weiter, ein Aktenzeichen nach dem anderen. Allesamt Fälle von Betrug, versuchter Geldwäsche, Übervorteilung, Unterschlagung, veruntreuten Geldsummen, Abzocke und so weiter.

      Dann läutet das Telefon. Anne nimmt das Gespräch entgegen. „Für dich!“, sagt sie dann und schwenkt den Apparat zu Nili hinüber.

      „Hi, Nili, hier ist Kriminaloberkommissarin Hink von der Blumenstraße, erinnerst du dich noch an mich?“

      „Natürlich, Steffi, wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?“

      „Hättest du ein wenig Zeit, um kurz zu uns rüberzukommen? Es geht um den Einbruch bei Thomas Greve in der Hofstraße. Wir haben von KOK Lattermann von eurer abendlichen Exkursion erfahren. Sicher kannst du uns ein wenig weiterhelfen.“

      „Natürlich gern, wenn ich hier mal kurz wegdarf?“ Sie richtet einen fragenden Blick an die Kollegin.

      Anne Engel schaut auf ihre Uhr. „Ist sowieso kurz vor Feierabend, mach einfach Schluss für heute.“

      „Okay, bin in einer halben Stunde bei euch, in Ordnung?“

      „Prima! Danke, Nili, bis gleich!“

      Steffi und Sascha erwarten sie am Eingang der Kieler Bezirkskriminaldirektion.


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