Am Zauberfluss. Ulrich Meyer-Doerpinghaus
Vater Rhein«, der »politisch kompromittiret« werde,2 noch so bemitleiden – lieber erinnerte man sich an Ernst Moritz Arndts alte, aus der Zeit der Freiheitskriege stammende Parole vom »Rhein, Teutschlands Strom, nicht Teutschlands Grenze«, und es wurde mit Vorliebe Nikolaus Beckers »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein« oder Max Schneckenburgers »Wacht vom Rhein« gesungen.
Den Worten folgten indes bald Steine: Burgen und Schlösser bewehrten bald das Rheintal. Immer mehr Gäste strömten heran, der Rummel kannte keine Grenzen. Der Dichter Karl Simrock bemerkte in der Einleitung zu seinem »Malerischen und Romantischen Rheinland«: »Reisebücher, Karten, Panoramen, malerische und plastische Darstellungen einzelner Gegenden wie grösserer Strecken, Sagensammlungen in Versen und Prosa, und tausend andere Reisebehelfe sind in allen Kunst- und Buchläden in solcher Fülle zu Kauf, dass zwischen Mainz und Köln kaum ein Haus, kaum ein Baum gefunden wird, der nicht schon eine Feder oder einen Grabstichel in Bewegung gesetzt hätte. Diese Gegend ist so vielfältig beschrieben, abgebildet und dargestellt, dass man zuletzt das Postgeld schonen und sie mit gleichem Genuss in seinen vier Wänden bereisen kann.«3
Wie ist es heute um die Rheinromantik bestellt? Sie ist en vogue, keine Frage: Viele Ausstellungen, immer neue Bücher und zahlreiche Gäste, die an den Rhein kommen, belegen es. Und dennoch, die Rheinromantik scheint inzwischen etwas von ihrem Kern verloren zu haben. Es ist, als sei sie zu einer kulturellen Ikone geronnen, zum Opfer des Klischees geworden, das sie selbst erschaffen hat: efeubewachsene Gemäuer, weinselige Geselligkeit und Wehmut – die Bilder und Vorstellungen, die sich heute mit der Rheinromantik verbinden, sind unbestritten schön und pittoresk, aber eben nur das. Macht die Rheinromantik noch betroffen? Wollte heute noch einer an den Rhein ziehen, um sich vom Fluss berücken zu lassen und dabei die eigenen Schaffenskräfte entfesselt zu sehen? Gern genießt man die Landschaft bei Rotwein und Kerzenlicht – damit soll es dann aber sein Bewenden haben.
Dieses Missverständnis gilt für die Romantik überhaupt. Man hält die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gerne für eine Zeit, die vor allem von Melancholie geprägt war. Der Schein trügt jedoch: Nie wurde mehr gesucht und gesehnt, mehr gespielt und gewagt als in der Romantik. Thomas Mann, der von seinen Kindern »der Zauberer« genannt wurde, schrieb über die romantische Seele, dass sie sich den »irrationalen und dämonischen Kräften des Lebens, das will sagen: den eigentlichen Quellen des Lebens nahe fühlt und einer nur vernünftigen Weltbetrachtung und Weltbehandlung die Widersetzlichkeit tieferen Wissens, tieferer Verbundenheit mit dem Heiligen bietet«.4
Oder vor einigen Jahren Rüdiger Safranski: »Der romantische Geist ist vielgestaltig, musikalisch, versuchend und verführerisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewußte, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion. Der romantische Geist bleibt sich nicht gleich, ist verwandelnd und widersprüchlich, sehnsüchtig und zynisch, ins Unverständliche vernarrt und volkstümlich, ironisch und schwärmerisch, selbstverliebt und gesellig, formbewußt und formauflösend.«5
Alles das kann man auch von den Rheinromantikern sagen. Sie haben das Rheintal zu ihrer Landschaft gemacht, weil es ihnen so unübersichtlich, widersprüchlich und zerklüftet erschien wie die menschliche Seele. Wo hätte man besser auf Erweckung und Glück spekulieren können als hier! Der Rhein: ein Zauberfluss! Ihm dürften die Rheinromantiker wohl ähnliche Wirkungen zugeschrieben haben wie Eichendorff dem berühmten »Zauberwort«:
»Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.« 6
Ich wähle dich!
Friedrich Schlegel und die Erfindung der Rheinromantik
PARIS, im Herbst 1803. Die Luft steht still, ein spätes Licht liegt über der Stadt. Die ersten Kastanienblätter fallen auf die Kieswege des Jardin des Tuileries. Sie sind bereits so welk geworden wie die Ideale, die nur ein Jahrzehnt zuvor hier, im Herzen Frankreichs, das Blut der Menschen erhitzt hatten. Noch stehen die Parolen der Revolution in schwarzen Lettern auf den Hauswänden: »Liberté, Égalité ou la Mort!«7 Der Sturm auf die Bastille ist aber längst Geschichte. Was ihm folgte, lässt sich in der Erinnerung kaum noch voneinander trennen: die Hinrichtung des Königspaares, die Errichtung der Republik, die Schreckensherrschaft der Jakobiner, die Greueltaten der Sansculotten. Dass man seit kurzem wieder im Krieg mit England liegt, interessiert kaum jemanden. Alltag zieht ins kriegsmüde Paris ein. Napoleon Bonaparte, der Erste Konsul, hat mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire 1799 die Alleinherrschaft an sich gerissen. Er schickt sich an, die Monarchie zu restaurieren. Argwöhnisch lässt er die eigene Bevölkerung bespitzeln, drückt Presse und Theater in die Zensur. Die Schriftstellerin Germaine de Staël, die den gesellschaftlichen Rückschritt in ihrem Roman »Delphine« kritisierte, wird des Landes verwiesen und muss ihren literarischen Salon aufgeben. Den Bürgern von Paris ist es einerlei. Sie wollen nur Ruhe – und die gibt Napoleon ihnen.
Wer jedoch die Stadt in Richtung Norden verließ, der konnte in einem stattlichen Haus an den Hängen des Montmartre eine kleine Wohngemeinschaft antreffen, die entschlossen schien, der Stimmung in der Stadt zu trotzen. Wo die Pariser Aristokraten die Sommerfrische in ihren Landhäusern zu verbringen pflegten, stand an der langen, schnurgerade aufsteigenden Rue de Clichy ein Haus mit Innenhof und einem großem Garten, der von hohen, alten Bäumen überragt wurde. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte hier der damalige Hausherr, der Baron d’Holbach, zusammen mit Rousseau und Diderot die »Encyclopédie«, das größte literarische Vorhaben der französischen Aufklärung, in Angriff genommen. Jetzt wohnte in dem Haus der deutsche Philosoph und Schriftsteller Friedrich Schlegel. Er strebte danach, in Paris das Ideal der romantischen Geselligkeit ins Werk zu setzen. Dazu sammelte er einen Kreis Gleichgesinnter um sich. Man las gemeinsam Texte, diskutierte oder trieb – wie es der Hausherr nannte – »Symphilosophie«.8
Der 1772 in Hannover als Sohn eines Pfarrers geborene Schlegel machte auf den ersten Blick den Eindruck eines eher ruhigen Zeitgenossen: Er war klein und untersetzt, hatte ein rundes, wie mit dem Zirkel gezogenes Gesicht, sein Kopf ruhte halslos auf dem Rumpf. Der zweite Blick belehrte den Beobachter jedoch eines Besseren: Schlegels wachen Augen entging nichts. Sein heller Verstand griff stets aus nach Neuem. Er war ein Frühaufsteher und Tausendsassa, ein funkensprühender Feuerkopf. Seit der frühen Kindheit hatte er unzählige Bücher gelesen. Die Zeitgenossen staunten über seine stupende Gelehrsamkeit. Ein jeder in Deutschland wusste es: Schlegel war Vordenker und Stichwortgeber der romantischen Bewegung. Drei Jahre zuvor, im Sommer 1799, hatte er in seiner Wohngemeinschaft in der Jenaer Leutragasse an heißen Tagen und in kurzen Nächten das Projekt der Romantik ersonnen, zusammen mit seiner acht Jahre älteren Lebensgefährtin Dorothea Veit, seinem Bruder August Wilhelm und dessen Frau Caroline, mit dem Philosophen Friedrich Schelling, dem Schriftsteller Ludwig Tieck und seinem engsten Freund Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte. Friedrich Schlegel besaß zwar nicht die poetischen Fähigkeiten der anderen, wusste aber am besten auf den Begriff zu bringen, worauf es der Romantik ankam: Skepsis gegenüber dem gleißenden Licht der Vernunft und Suche nach der – wie er es nannte – »schönen Verwirrung der Fantasie, […] dem ursprünglichen Chaos der menschlichen Natur«,9 ein nahezu grenzenloses Vertrauen in das schöpferisch tätige Subjekt, unbändige Neugierde für alles Unverständliche und Unendliche. Für Schlegel war all dies keine graue Theorie, sondern bot ihm einen praktischen Schlüssel zum menschlichen Glück, denn, so schrieb er, »die innere Zufriedenheit« hänge »irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte«.10
Berühmt wurde Schlegel, als er sich mit einem der größten Vernunftsoptimisten seiner Zeit öffentlich anlegte: mit Friedrich Schiller. Die gelehrten Beiträge, die dieser in den »Horen« und im »Musenalmanach« veröffentlicht hatte, verriss Schlegel mit zähem Fleiß. Als in der Jenaer Wohngemeinschaft aus Schillers »Glocke« vorgelesen wurde, fiel man vor Lachen fast vom Stuhl, belustigt von den Versen über die