Am Zauberfluss. Ulrich Meyer-Doerpinghaus

Am Zauberfluss - Ulrich Meyer-Doerpinghaus


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sich die Bemühungen der Kunststudenten an den Akademien weitgehend darin, die antiken Vorbilder möglichst genau nachzuahmen: Wem dies am besten gelang, der galt als der beste Künstler. Genau das aber erregte Schlegels Einspruch: Der gegenwärtige Künstler – so formuliert er – »bewegt sich nur mit fort in dem verworrnen Strudel und Traume eines bloß äußerlichen, innerlich ganz wesenlosen und eigentlich nichtigen Daseins; statt daß uns die Kunst grade aus diesem herausrücken und in die höhere, geistige Welt emporheben sollte«.22 Dagegen vermöge doch die Malerei viel mehr. Sie sei »eins der wirksamsten Mittel, […] sich mit dem Göttlichen zu verbinden, und sich der Gottheit zu nähern«.23 Deshalb empfahl Schlegel den Kunststudenten, an der schlichtweg ergreifenden Kunst des Mittelalters Maß zu nehmen, statt sich an antiken Vorbildern zu orientieren.

      Goethe war nicht amüsiert. Er nannte seinen Herausforderer kurzum eine »rechte Brennessel«.24

      Die mittelalterliche Malerei als höchster Ausdruck der Kunst – das war es, was die Kölner Gäste zu hören bekommen wollten. Sie empfingen aber nicht nur von Schlegel, sondern gaben ihm auch zurück. Der Philosoph erhielt von ihnen neue Denkanstöße, die sein Blickfeld erweiterten. So interessierte sich Schlegel zunächst nur für die Malerei des Mittelalters – für die Baukunst derselben Zeit aber hatte er keinen Blick: An der Notre-Dame ging er achtlos vorüber. Das sollte sich ändern, nachdem die drei Kölner ein solches Interesse in ihm geweckt hatten. Aber nicht nur das, sie begeisterten ihn auch für die alte katholische Kultur im Allgemeinen, wie sie in Köln beispielhaft verkörpert war. Sie fanden in Schlegel einen aufmerksamen Zuhörer, als sie ihm von den zahlreichen Kirchen und Klöstern wie auch von der rheinischen Lebensart erzählten. Das faszinierte Schlegel. Sulpiz schrieb: »Alles dieses erweckte bei unserm Freund den Wunsch, diese wegen ihren veralteten Volkssitten und Zuständen zu jener Zeit sehr verkannten Landstriche kennen zu lernen.«25 Die drei Kölner aber gingen in Gedanken noch einen Schritt weiter. Sie wollten Schlegel und Dorothea davon überzeugen, nach Köln umzuziehen. Und sie wussten, womit sie den Wissenschaftler Schlegel locken konnten: In Köln gab es zwar seit 1798 keine Universität mehr, aber maßgebliche Teile der Bürgerschaft arbeiteten daran, die höhere Lehranstalt wieder zu errichten. Sollte es da nicht möglich sein, Schlegel mit der von ihm seit langem erstrebten beruflichen Festanstellung auszustatten?

      Im Frühjahr 1804 entschieden sich Friedrich Schlegel und Dorothea Veit tatsächlich, ihren Wohnsitz nach Köln zu verlegen. Zuvor heiratete man noch in Paris, nachdem Dorothea sich hatte evangelisch taufen lassen. Dann wurde der Schlegel’sche Hausrat mit einer Kutsche nach Köln gebracht, und das Paar reiste mit Dorotheas Sohn und den neuen Freunden über Brüssel, Löwen, Lüttich, Aachen und Düsseldorf nach Köln – zu Fuß, denn das war für Romantiker eine Selbstverständlichkeit.

      Wenn es zu jener Zeit eine deutsche Stadt gab, die für Altehrwürdigkeit und Tradition stand, dann war es Köln. Die Monumente aus römischer Zeit, die zahlreichen Kirchen und die verwinkelten Gassen flößten dem Besucher Respekt ein. Doch konnte ihm zugleich nicht entgehen, dass die würdevolle Oberfläche bereits Patina angesetzt hatte. Georg Forster, der Köln im Jahr 1791 besuchte, notierte in seinem Tagebuch, keine andere Stadt am Rhein liege »so üppig hingegossen da«. Beim näheren Hinsehen fand er die Stadt jedoch »finster« und »traurig«. Forster sah in den Gassen »Scharen von zerlumpten Bettlern herumschleichen«. Geradezu angewidert zeigte sich der aufgeklärte Naturforscher angesichts der Reliquienfrömmigkeit, die ihm in der Stadt überall entgegenschlug. Als er in der Ursulakirche einen großen Knochenhaufen bemerkte, der angeblich von den elftausend Jungfrauen stammte, rief er aus: »Allein, daß man die Stirne hat, dieses zusammengeraffte Gemisch von Menschen- und Pferdeknochen, welches vermutlich einmal ein Schlachtfeld deckte, für ein Heiligtum auszugeben […], das zeugt von der dicken Finsternis, welche hier in Religionssachen herrscht.«26

      Auch Schlegel konnte, als er nach Köln gezogen war, an solchen Missständen nicht vorübersehen: »Die Straßen, besonders die nach dem Rheine zu, sind meistens eng, weil alles sich des Verkehrs und des Gewerbes wegen nach dieser Gegend drängt; sehr breite Gassen würden hier auch wegen der Strenge der Rheinluft im Frühling und Herbst nicht eben wohnlich sein.« Dann aber brach sich bei ihm doch die Begeisterung Bahn: »Die herrliche amphitheatralische Lage der Stadt am Rhein, längs dessen Ufer sie einen halben Mond in der Ausdehnung einer kleinen Stunde bildet, die Menge der Gärten in der Stadt selbst, die Schönheit des innern und äußern Spaziergangs um den Wall, die beträchtliche Erhöhung einiger Teile der Stadt, gewährt einen hinlänglichen Ersatz für den Mangel an umgebenden Spaziergängen, und für die im Ganzen flache Gegend, die nur in der Ferne durch das Siebengebirge begrenzt wird.« Am meisten aber sagte ihm der kulturelle Reichtum der Stadt zu: »Für den Freund der Kunst und der Altertümer ist es eine der wichtigsten und lehrreichsten Städte Deutschlands.«27

      Der alte Glanz konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Köln damals eine tiefe historische Zäsur erlebte. Die Franzosen, seit 1794 Besatzungsmacht, hatten der Metropole den Titel der »freien Reichsstadt« genommen und sie zum Provinzhauptsitz degradiert. Aber nicht nur das, die neuen Herren schickten Köln binnen weniger Jahre in die Moderne. Sie führten die Gewerbefreiheit ein und schafften die Gaffeln und Zünfte ab. Die Juden wurden mit den übrigen Bürgern gleichgestellt und der Code Civil eingeführt. Fortan maß man nicht mehr an Elle, Fuß oder Hand, sondern in Metern – die Waagen zeigten Kilogramm statt »Mark«. Die Häuser wurden numeriert, zunächst durchgängig, später nach Straßen, so dass das Haus des Parfümherstellers Wilhelm Mühlens zunächst die »4711« trug und dann die Adresse »Glockenstraße 12« erhielt. Die Kölner mussten zugleich zahlreiche Neuerungen hinnehmen, die gerade für eine katholische Stadt gewöhnungsbedürftig waren: Man rechnete die Zeit nicht mehr ab Christi Geburt, sondern ab 1792, dem Jahr der Abschaffung der französischen Monarchie. Die Monate trugen Namen, die am Naturkalender orientiert waren, zum Beispiel Ventôse für die stürmischen Frühjahrswochen oder Floréal für die Zeit der ersten Blüte. Statt des Sonntags gab es nur alle zehn Tage einen Feiertag, den sogenannten Dekadi.

      Das symbolträchtigste Bild für den Niedergang der Stadt war indes der Anblick des Domes: Halb fertig stand er da, ein mächtiger Torso, an dem seit 1560 nicht mehr weitergebaut worden war. Vollendet war allein der massive Westbau, den die Franzosen jedoch zu einem Getreidespeicher umfunktioniert hatten. Während dort, wo das Kirchenschiff zu erwarten war, eine große Lücke klaffte, ragte an der Ostseite nur einer der beiden ursprünglich vorgesehenen Türme in die Luft, jedoch auf halber Höhe flach abgeschnitten. Auf der Plattform reckte sich ein großer, unbenutzter Baukran wie ein klagender Zinken schräg in die Luft; Herman Melville sollte diesen später in seinem Roman »Moby Dick« als das Symbol des Unfertigen schlechthin bezeichnen.

      Dass in Köln die Verhältnisse auf dem Kopf standen, konnten die Schlegels außerdem bemerken, als sie in ihre Wohnung an der Kirche Sankt Maria im Kapitol einzogen. In dem großen Haus wohnten sie gemeinsam mit einer über siebzigjährigen Dame, die hier noch vor kurzer Zeit einer geistlichen Frauengemeinschaft als Äbtissin vorgestanden hatte. Nach Aufhebung des Klosters hatte ihr ehemaliger Kutscher das Gebäude erworben und ihr gnädigerweise erlaubt, darin mietfrei ihren Lebensabend zu verbringen.

      Als Schlegel, Bertram und die Brüder Boisserée in Köln ankommen, wissen sie gleich, was zu tun ist. Es gilt, der Stadt die eigene Geschichte und die kulturelle Grundlage wiederzugeben. Wie Sulpiz schreibt, sei es die Zeit des »Unglücks, wo man in allem Trost suchte, was einer bessern Vergangenheit angehörte«.28 Folglich sei »zu retten, was noch zu retten war«.29 So beginnen die vier, die Bildwerke, die seit dem Jahr 1802 aus den Kirchen verschwunden waren, zu suchen und zu sammeln. Sie sprechen zu diesem Zweck nicht nur private Kunstsammler an, die hier neuerdings in großer Zahl vorhanden sind, sondern gehen auch auf Trödelmärkte, wo Tafelbilder zu Spottpreisen verramscht werden. In zäher Anstrengung gelingt es ihnen, einen Bestand zusammenzustellen, der die Werke der bekanntesten mittelalterlichen Maler von Stefan Lochner über Albrecht Dürer, Lucas Cranach den Älteren, Hans Holbein den Jüngeren, Jan von Eyck und Rogier van der Weyden bis zu Dierick Bouts und Hans Memling zusammenführt. Den Restauratoren über die Schulter zu blicken, ist für Sulpiz ein atemraubendes Vergnügen: »Und wie freuten wir uns, wenn wir dann unter der reinigenden Hand des Restaurators irgend einen Kopf oder ein Stück eines schönen, blauen, roten oder grünen Gewandes, wenn wir einen Kräuterboden mit Erdbeerblüten und -früchten, mit Veilchen


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