Am Zauberfluss. Ulrich Meyer-Doerpinghaus
Erkenntnis, dass eine Ehe nur dann sinnvoll sei, wenn sie auf gegenseitiger Liebe beruhe. Mehr noch, er beeilte sich hinzuzufügen, die Befriedigung der körperlichen Lust sei in einer solchen Ehe durchaus möglich, sowohl für den Mann und – das war eine Provokation – auch für die Frau. Diese Feststellung versuchte er mit intimen Details aus der eigenen Verbindung mit Dorothea Veit zu belegen. So schrieb er vom »Blitz der Liebe«, der »in ihrem zarten Schoß gezündet«.11 Das war zu viel – nicht nur für Dorothea, sondern auch für ein Publikum, das sich zwar aufklärerisch, nicht aber aufgeklärt gab: Das Buch wurde zum Skandal.
Schlegel war, nachdem sich die Jenaer Wohngemeinschaft wegen verschiedener Spannungen und Eifersüchteleien aufgelöst hatte, mit Dorothea und Philipp, ihrem neunjährigen Sohn aus erster Ehe, nach Paris gezogen, um sich hier eine berufliche Existenz aufzubauen. In dem Haus an der Rue de Clichy wollte man den Geist von Jena zu neuem Leben erwecken. Die beiden gründeten eine Pension, in der bald zwei Sanskritexperten zur Miete wohnten, von denen einer, der Schotte Alexander Hamilton, seinem Pensionsvorsteher jeden Nachmittag von zwei bis fünf Uhr Unterricht in der altindischen Sprache erteilte. Zahlreiche Männer und Frauen fanden sich jeden Sonntag bei einem literarischen Tee-Abend in der Schlegel’schen Wohnung zusammen, gleich im Anschluss an eine öffentliche Vorlesung, die der Philosoph am »Athenée des étrangers« vor einer großen Menge Zuhörer gab, um, wie er es fasste, »das Evangelium auf meine Weise zu verkünden«.12 Bei den sonntäglichen Geselligkeiten verwandelte sich das Haus in einen Salon: Man las einander vor, diskutierte, musizierte gemeinsam, lachte, aß und trank viel. Die Gäste kamen aus vielen Ländern: Es waren Deutsche, Franzosen, Schweizer, Portugiesen, Dänen, Niederländer und Italiener darunter. So ließ sich zum Beispiel Dorothea von Rodde blicken, die erste promovierte Geisteswissenschaftlerin Deutschlands. Der Schriftsteller Achim von Arnim kam hinzu und stritt mit Schlegel über das, was Romantik im Kern bedeute. Der später berühmte italienische Bildhauer Lorenzo Bartolini bereicherte die Zusammenkünfte ebenso wie Vivant Denon, der Direktor des Musée Napoléon.
In diesem Getriebe wusste besonders eine zwanzigjährige Frau aufzufallen, nicht nur wegen ihrer großen mandelförmigen Augen und der langen schwarzen Haare, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte. Mehr noch tat sie sich durch ihr Temperament, ihre Neugierde für Menschen und ihre ausgeprägte Gesprächsfreudigkeit hervor. Ihr koketter Charme war in Paris in aller Munde. Helmina von Halfter, so ihr Name, stammte aus Berlin und war die Enkelin der damals berühmten Schriftstellerin Anna Louisa Karsch. Diese Herkunft bereitete ihr ein vorzügliches Entree in die gehobenen Kreise von Paris. Helmina hatte es nach einer gescheiterten Ehe an die Seine verschlagen, wo sie als Korrespondentin für verschiedene deutsche Zeitungen tätig war. Bald übernahm sie auch die Redaktion einer Zeitschrift, der »Französischen Miscellen«, in denen sie Klatsch und Tratsch vom Hofe Napoleons zum Besten gab. Das deutsche Publikum las die Reportagen aus der Herzkammer des Feindes mit lebhaftem Interesse.
Helmina fühlte sich in der Hausgemeinschaft bestens aufgehoben, sie arbeitete am liebsten draußen in der Orangerie und liebte den Blick, der sich ihr von dort aus über ganz Paris bot. Den Gastgebern Friedrich Schlegel und Dorothea Veit war sie nah verbunden. Als das Paar im Sommer des vorangegangenen Jahres fast mittellos nach Paris gezogen war, hatte Helmina ihnen mit finanzieller Unterstützung über die schwierige Anfangszeit hinweggeholfen. Das vergalt ihr das Paar später mit dem Angebot, in das Holbach’sche Palais zu ziehen. Die junge Deutsche ließ sich nicht zwei Mal bitten. Besonders zu Dorothea fasste sie Vertrauen und Zuneigung. Jene war ihr wie eine zweite Mutter, mit ihr teilte sie ihre Geheimnisse, Ängste und Vorlieben. Die Tochter des berühmten Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn verfügte wie Helmina über eine profunde Bildung, hatte ein ausgeprägtes Interesse an Literatur und betätigte sich als Schriftstellerin. Beide Frauen waren bereits ein Mal geschieden, was der einen genauso wenig ausmachte wie der anderen. Helmina sprach hingebungsvoll über ihre neue Ersatzmutter: »Sie war freudig und stark, großartig und mild, duftend wie eine Blume, saftig wie eine Frucht, feurig wie ein Mann, zartfühlend wie ein Weib.« Zu Friedrich Schlegel hatte Helmina dagegen ein eher kompliziertes Verhältnis. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis. Nicht ohne Furcht nahm sie seine »kolossale überströmende Natur« zur Kenntnis. Sie schrieb, er sei »einklanglos und in seinem Wesen die entschiedensten Gegensätze offenbarend: weich wie ein Kind und schroff wie ein Gigant, hinwogend im Aether wie ein Adler und wühlend im Boden nach Vergnügungen, die ganz irdischer Natur waren«. Sie nahm wahr, wie der Mann von seinen gegensätzlichen inneren Impulsen hin- und hergezogen wurde: »Er wußte und erstrebte zu vielerlei.« Schlegel bemühte sich zwar nach Kräften, Helmina in ihrem Bildungsstreben zu unterstützen, doch fühlte sie sich von ihm zugleich oft zurückgestoßen. Das »Eckige und Schroffe, das öfters bei ihm hervortrat«, machte ihr oftmals großen Kummer.13
Die schwankenden Stimmungen Schlegels mögen ihren Grund darin gehabt haben, dass er in Paris nicht die Erfüllung fand, die er sich gewünscht hatte. Der Dreißigjährige verfolgte hier das Ziel, seine frei schwebende Existenz als privater Gelehrter aufzugeben und eine feste berufliche Stellung zu erlangen, um sich erstmals in seinem Leben auf verlässliche Einkünfte stützen zu können. Er setzte sich in Paris für die Gründung einer deutsch-französischen Gelehrtenakademie ein, an der er selbst zu lehren gedachte. Bei den Pariser Behörden stieß Schlegel aber auf taube Ohren, was ihn vollends ernüchterte. Bekleidet mit einem schwarzen Paletot, stromerte er durch die Stadt, während ihm sein durchlöcherter Hut das Aussehen einer, wie ein Augenzeuge formulierte, »Sperlingsscheuche«14 verlieh. Dabei wälzte er in seinem Kopf grollende Phantasien. Sein Unmut spießte alles auf, was französisch war oder nur so aussah. Schlegel fühlte sich als ein Exot. An seinen Bruder August Wilhelm schrieb er: »Auch die Ménagerie [der zoologische Garten im Jardin des Plantes] hier ist sehr schön; besonders der Elefant hat mir viel Achtung und Teilnahme eingeflößt. Er ist unstreitig nächst mir derjenige welcher am wenigsten hier zu Hause ist.«15 Schlegel war ratlos, er sehnte sich nach einem äußeren Ereignis, das ihn von seiner Unzufriedenheit erlösen würde.
Im September 1803 klopften drei junge Männer an das schwere Tor des Holbach’schen Palais, und es war Helmina, die als erste zur Stelle war und öffnete. Beim Anblick der Herrschaften konnte sie ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Die Männer standen da »ganz weiß gepudert, mit Taubenflügeln und Zöpfen, in Fracks, seidenen Strümpfen und Schuhen mit goldenen Schnallen« – solche Toiletten trug man in Paris schon lange nicht mehr. Helmina trieb mit den dreien sogleich ihren Schabernack. Deren Frage, ob sie es wohl mit Frau Schlegel zu tun hätten, bejahte sie, woraufhin sie ein wohlklingendes Kompliment zu hören bekam: »Das Gerücht hat Sie uns nicht ganz schön beschrieben, Frau Schlegel!«16
Die Neuankömmlinge hatten den Weg von Köln, ihrer Heimatstadt, nach Paris in einer Postkutsche zurückgelegt. Es waren allesamt wohlbegüterte Kaufmannssöhne, von denen einer, offenbar der Älteste, sogleich die Rolle des Wortführers übernahm. Er stellte sich als Johann Baptist Bertram vor. Die beiden anderen waren offensichtlich jünger und, wie unschwer zu erkennen war, Brüder: Sie führten sich als Sulpiz und Melchior Boisserée ein. Während Bertram bereits ein Studium der Jurisprudenz und der Philosophie absolviert hatte, lag die Schulzeit für die beiden anderen noch nicht weit zurück.
Die Boisserée waren Sprösslinge einer Familie, die ursprünglich in der Gegend von Lüttich ansässig gewesen war. Der Vater war von dort nach Köln gezogen, um die Leitung des Handelshauses zu übernehmen, das ihm sein kinderloser Onkel vererbt hatte. Der tüchtige Boisserée hatte dann eine Kölner Kaufmannstochter geheiratet und mit ihr eine zwölfköpfige Familie gegründet, die »am Blaubach« wohnte, mitten in den verwinkelten Gassen der Stadt und nur einen Steinwurf von Neumarkt und Heumarkt entfernt. Der zwanzigjährige Sulpiz, im Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Melchior der zweifellos Aufgewecktere und Temperamentvollere, absolvierte eine Kaufmannslehre in Hamburg. Die Entwicklung des weltläufigen jungen Mannes nährte die Erwartung, dass er, wie von seiner Familie erhofft, in die Fußstapfen des Vaters treten und eine Karriere als Kaufmann einschlagen werde. Das wäre auch so gekommen, wenn er nicht durch Zufall bei einem Kölner Buchbinder »einem jungen Manne mit krausem Haar und lebhaften Augen« begegnet wäre, eben dem um sieben Jahre älteren Johann Baptist Bertram. Sulpiz Boisserée erinnert sich: »Das Gespräch führte gleich auf die Brüder Schlegel, besonders auf Friedrich; die unbedingte Begeisterung, welche der junge Mann für diese beiden genialen, aber