Der Weg in die Verbannung. Liselotte Welskopf-Henrich
stehen, als ob er versteinert worden sei. Während er einen Teil der Bienen noch hinter sich hatte, war vor ihm der ihm verhassteste aller Feinde aufgetaucht: ein Mensch.
Der Mensch lachte dröhnend. Der Bär glaubte, dass sein Feind brülle, und antwortete mit einem bösen Fauchen, um dem anderen Angst zu machen. Aber das dem Bären widerwärtige Geschöpf lachte weiter. Die Bienen nahmen unterdessen ihren Vorteil wahr und stachen den Braunfelligen von hinten an empfindlichen Stellen. Das wurde dem Bären, der sich in dieser stillen Mittagsstunde auf Genuss und nicht auf Gefahr eingestellt hatte, zu viel. Er brach zur Seite aus und rannte in voller Flucht waldabwärts.
Die beharrlichsten der Bienen verfolgten ihn noch eine Strecke weit. Dann kehrte das Insektenvolk triumphierend zu seinem Stock zurück. Die Toten wurden nicht gezählt.
Der Mensch hatte dem fliehenden Bären nachgeschaut und noch einmal aufgelacht. Als das Raubtier verschwunden war, schlug er sich auf den Mund, sagte leise »Dummkopf« zu sich selbst und verkroch sich, um zwischen Buschwerk und Stämmen hindurch auf den Windbruch am Hang Ausschau zu halten.
Als er sich überzeugt zu haben glaubte, dass außer ihm selbst und dem Getier aller Art nichts und niemand im Wald und auf der Lichtung unterwegs war, regte er sich wieder. Mit aller Umsicht, deren Jäger wie Gejagte in der Wildnis fähig werden, ging er die hundert Meter durch den Wald am Rand des Windbruchs. Er überzeugte sich bei jedem Schritt und jedem Griff, dass er keine Spur hinterließ, und wenn dies doch der Fall war, nahm er sich Zeit, um sie unsichtbar zu machen. Als er den Windbruch erreicht hatte, kletterte er, gewandter noch als der Braunbär, durch das Gewirr der gestürzten Stämme, der dörrenden Baumkronen und des herausgerissenen Wurzelwerks. Auch er strebte zu dem einzigen Baumriesen, der der Gewalt des Wirbelsturms entgangen war. Aber es lag nicht in seiner Absicht, den Bienenstock auszurauben. Er umging den Baum, näherte sich von der dem Astloch abgewandten Seite und besah einen Unterschlupf, den er schon vom Rand der Lichtung her entdeckt hatte. Die Zweige einer Baumkrone, an denen verwelkte und auch noch einige grünende Blätter hingen, die Wurzeln eines anderen Baumes und etliches Gesträuch bildeten eine Art natürlicher Laube. Der Mann kroch darunter, zog das Messer und schnitt Zweig- und Wurzelgewirr etwas aus, so dass er sich freier bewegen konnte. Zwei Ledersäcke, die er bei sich trug, und seine Büchse verstaute er im verborgensten Winkel. Dann prüfte er mit den Augen die Möglichkeit, von seinem Versteck zu dem mächtigen Baum und in dessen Krone zu gelangen, und probierte den Weg, der ihm dafür geeignet schien, auch gleich aus. Hoch oben in der dicht belaubten Baumkrone fand er den gewünschten Sitz auf einem Ast, der immer noch stark genug war, um nicht zu schwanken. Das Schwanken eines Astes hätte etwaige verborgene Feinde aufmerksam machen können. In aller Ruhe spähte der Mann aus seinem Versteck umher, über die Baumwipfel an den Berghängen, über die Prärien am Fuße des Gebirgsstocks, die im Mittagsglast lagen und sich mit ihren grasbewachsenen und sandigen Bodenwellen im Dunst verloren. Gegen Südosten zu erkannte er in der Ferne Ödland und bizarre Felsen.
Die aufgestörten, immer noch unruhigen Bienen waren dem Mann lästig, aber doch nicht mehr als eine ärgerliche Empfindung wert. Er rührte sich nicht, nur hin und wieder nahm sein Blick eine andere Richtung.
Hoch über den Wäldern kreisten zwei Raubvögel.
Die Ruhe des Mittags, die Stille der Wildnis, die Regungslosigkeit der Baumwipfel machten den Mann zufrieden. Allein zu sein und weithin nirgends einen anderen Menschen zu wissen, das war im Augenblick alles, was er sich wünschte.
Er blieb in der Baumkrone bis gegen Abend, so regungslos, als wäre er selbst ein Ast. Als die Sonne sich tiefer neigte, kletterte er behende, ohne Äste zu bewegen, geräuschlos hinab und kroch in sein Versteck.
Hier öffnete er erst den einen Sack, entnahm ihm eine halbe Handvoll getrocknetes und gemahlenes Büffelfleisch und ließ es auf der Zunge zergehen, um es langsam zu schlucken. Dann gestattete er sich einen Schluck Wasser aus dem zweiten Sack. Das war seine Mahlzeit an diesem Tag. Mehr brauchte er nicht, denn er war gut bei Kräften, und sein Körper konnte einige Zeit hindurch zusetzen.
Für eine Viertelstunde streckte er sich aus und ruhte. Dabei dachte er, was er nur äußerst selten zu tun pflegte, an sich selbst und sein bisheriges Leben. Er dachte daran, weil er hoffte, dass sich in der beginnenden Nacht dieses Leben endgültig, für immer, ändern sollte. Nein, das war falsch gedacht. Es konnte sich nicht so schnell verändern. Aber die eine große Wendung, der alles andere folgen sollte, musste in dieser Nacht eintreten.
Sie musste!
Der Mann, der seinen Willen darauf konzentrierte, mochte zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein. Wie alt er war, wusste er selbst nicht genau, denn er besaß keinen Geburtsschein, und kein Schreiber in der Welt hatte mit seiner Feder den Moment notiert, in dem dieser Mann als ein Kind das Licht erblickt und zu schreien begonnen hatte. Er kannte weder seinen Vater noch seine Mutter, hatte auch nie Genaueres gehört, wer sie gewesen waren. Seine früheste Erinnerung war der krachende Sturz eines gefällten Baumes. Damals war er erschrocken. Später hatte er sich nicht mehr erschreckt, weder vor den stürzenden Bäumen noch vor dem fluchenden Pflegevater noch vor Prügeln. Eine ganz schwache Erinnerung besaß er daran, dass er einmal seiner Pflegemutter hatte helfen wollen, als diese von ihrem Mann halb zu Tode geschlagen wurde. Der Erfolg war nur der, dass die Pflegeeltern sich vereint auf ihn stürzten und er mit knapper Not sein Leben rettete. Er war also dumm gewesen, das war der Schluss, den er selbst aus dem Erlebnis zog, und jedenfalls verspürte er nie wieder Lust, einem anderen zu helfen. Er lernte sehr früh Bäume fällen, Schnaps trinken, rauchen, fluchen, schießen und mit dem Messer stechen. Einmal beteiligte er sich an dem Überfall auf eine der Postkutschen, die den Ost-West-Verkehr in dem riesigen Land durch die Wildnis hindurch vermittelten. Er war damals kaum dem Knabenalter entwachsen und sah zum ersten Mal in seinem Leben Leute in kostbaren Kleidern und viel Geld in einer einzigen Börse, die er verschwinden ließ, ehe seine Raubkumpane etwas davon merkten. Mit der Börse verschwand er selbst in den Prärien, kaufte sich von einem der Grenzhändler eine vorzügliche Büchse und ging von da an allein und völlig selbständig auf Raub aus.
Sein bedeutendster Fang war einer der berittenen Geld- und Telegrammboten. Dieser Bursche ritt ein schnelles und ausdauerndes Pferd, war auch sehr gut bewaffnet. Aber es gelang dem jungen Räuber, ihn im Wald zu überraschen und zu überwältigen. Zum letzten Mal in seinem Leben hatte er diesem Burschen gegenüber so etwas wie ein Mitgefühl mit einem Menschen empfunden, ehe er ihn umbrachte. Der andere weinte und flehte um sein Leben und sagte, dass er ein Waisenkind sei. Natürlich, was war anderes zu erwarten gewesen, für das gefährliche Botengewerbe wurden fast nur Waisenkinder angestellt, deren Tod keine Scherereien verursachte. Eben darum tat es dem jungen Räuber, der selbst ein Waisenkind gewesen war, einen Moment leid um den Burschen. Aber er überwand sein Gewissen mit einem Ruck und führte den tödlichen Stoß. Obgleich er mit einem großen Teil seiner Beute, den Kreditpapieren, nichts anzufangen wusste, war die übrige Ausbeute noch reich genug. Aber der junge Räuber hatte nicht gelernt, mit Geld umzugehen und noch mehr Geld daraus zu machen. In Spelunken und Schenken, bei Spiel und Schnaps liefen ihm die Münzen durch die Finger wie Wasser, und er schloss daraus, dass es zwar schön sei, reich zu sein, dass es aber nur Sinn habe, Geld zu besitzen, wenn man es in unermesslichen Maßen besaß, die ein Menschenleben hindurch kein Ende nahmen.
Er hatte bei den Truppen der Südstaaten und auch bei den Truppen der Nordstaaten im mehrjährigen Bürgerkrieg Kundschafterdienste angenommen und war im Krieg zum legalisierten Räuber geworden, aber auch das hatte nicht genug gebracht.
Gold musste man finden! Irgendwo, wo kein anderer es suchte und wo man allein Herr wurde über unerschöpfliche Schätze der Erde. Heute in der Nacht, heute in dieser Nacht, musste es ihm endlich gelingen, ein sagenhaftes Goldvorkommen aufzuspüren, zu dem noch kein anderer gelangt war, jedenfalls noch kein Mensch mit weißer Haut!
Der Mann befühlte im Dämmer seines Verstecks und der gebrochenen Helligkeit des sinkenden Tages seine Perücke und lächelte befriedigt vor sich hin. Sein Gesicht war bartlos, denn er rasierte sich sorgfältig; das war der einzige Luxus, sein einziges Steckenpferd, davon ließ er nicht ab. Sonne und Wind hatten seine Haut der eines Indianers ähnlich gemacht. Als Perücke trug er einen Dakotaskalp mit zwei schwarzen Zöpfen. Es war die Kopfhaut einer Frau, die er ermordet hatte. Seine Füße waren