Der Weg in die Verbannung. Liselotte Welskopf-Henrich
Er hatte es in der Prärie frei laufen lassen, um jedweden Verfolger zu narren und glauben zu machen, dass er tot sei. Denn in der Prärie auf ein Pferd verzichten, das konnte nach den Vorstellungen der Indianer nur ein Toter oder ein Wahnsinniger.
Für wahnsinnig aber würde ihn niemand halten, der seinen Namen kannte. The Red oder Red Jim oder Red Fox oder wie er auch immer genannt werden mochte, war für seine sichere Hand und seinen sicher rechnenden Verstand in einigen Landstrichen schon berühmt, obgleich er erst zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte.
Heute in der Nacht wollte er zum zweiten Mal geboren werden. Das erste Mal war es ihm nur geglückt, als ein armer Teufel auf die Welt zu kommen. Jetzt aber würde er ein reicher Herr werden.
Ein unerschöpflich reicher Herr würde er sein, in diesem zweiten Leben!
The Red rührte sich, kroch aus seinem Versteck und kletterte noch einmal auf den Baum, um Ausschau zu halten. Der Abend war so einsam und still wie der Mittag.
Da ließ sich der Mann wieder herunter und machte sich auf den geplanten Weg. Die Säcke mit Fleisch und Wasser, selbst seine Büchse ließ er in seinem Versteck zurück. Er musste die Hände frei haben. Bedächtig, ohne jede Hast, immer mit der gleichen lückenlosen Aufmerksamkeit und Vorsicht, bewegte er sich zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzeln und Gebüsch im Windbruch aufwärts und gewann endlich den Wald. Er befand sich jetzt etwa dreihundert Meter höher als bei seiner Begegnung mit dem Braunbären. Ehe er weiter in den Hochwald eindrang, schaute er noch einmal über den Hang zurück und lauschte angestrengt.
Es war schon dunkel geworden, Fledermäuse flatterten unter einer Baumkrone hervor, schwebten umher und jagten.
Sonst rührte sich nichts.
Der Mann schlich weiter waldaufwärts und hielt sich etwas nach links. Die Gegend war ihm gut bekannt. Er konnte nicht irregehen. Der Waldhang wurde noch steiler, und der Mann nahm sich weiterhin in Acht, um keine Spuren zu hinterlassen, die bei Tag für unerbetene Nachforschungen sichtbar wurden. Zwar hatte er sich überzeugt, dass sich rings im Wald kein Indianerlager mehr befand und auch keine weißen Jäger oder Holzfäller unterwegs waren. Aber vor Überraschungen musste man in der Wildnis immer auf der Hut sein.
Es war schon Mitternacht, als The Red an einer Felswand anlangte, die aus dem Waldhang herauswuchs und die tiefer stehenden Bäume überragte. Oberhalb der Wand setzte der Baumwuchs wieder ein. The Red kletterte am Felsen hoch. Er hatte die Mokassins ausgezogen und eingesteckt und kletterte mit bloßen Füßen. Zehen und Finger einkrallend, zog er sich langsam über die Vorwölbung im Felsen in die Höhe. Er war sehr groß, das kam ihm hier zugute. Mit seinen langen Armen und Beinen konnte er weit umhertasten und auch entfernte Griffe und Tritte erreichen und ausnutzen.
Endlich hatte er es geschafft. Er gelangte zu dem Eingang der Höhle, den er nach der Beschreibung des zahnlosen Ben kannte und durch den er eindringen wollte. Er dachte jetzt nicht mehr daran, dass er ein großer Herr werden und in Saus und Braus leben wollte; er konzentrierte seine Gedanken und seinen Willen nur noch auf den jeweils nächsten Schritt und Tritt.
In der Höhle brauchte er kaum zu befürchten, dass er Spuren hinterließ. Er musste nur nicht allzu gewaltsam mit den sonderbaren Felsgebilden umgehen, die vom Boden auf- und von der Decke herabwuchsen. Ihre Spitzen durfte er nicht abbrechen. Das ließ sich leicht vermeiden.
The Red kam verhältnismäßig schnell voran. Der Höhlenboden senkte sich, und aus der Tiefe des Berges drang das Dröhnen, dessen Natur dem Eindringling schon von dem zahnlosen Ben beschrieben worden war. Tief im Berg stürzte eine Quelle als Wasserfall durch Höhlenarme abwärts. Dieser Wasserfall war es, der dem zahnlosen Ben im Frühling gefährlich geworden war. The Red würde sich geschickter verhalten und sich nicht von dem Wasser hinabreißen lassen. Ein Wunder, wahrhaftig, dass der Zahnlose den Tücken dieser Höhle noch entkommen war. Mehr Glück als Verstand hatte der Schleicher gehabt. Nun ließ er es sich in seiner Handelsspelunke am Niobrara wohl sein und verdiente sein Geld mit weniger Gefahr. The Red hatte dem zahnlosen Esel diesen guten Rat für sein weiteres Leben gegeben. Ben würde sich nie mehr in der Höhle sehen lassen, davon war The Red überzeugt.
Er allein beherrschte dieses Revier.
Der Mann erreichte die Stelle, an der das Wasser aus einem rechter Hand aufsteigenden Höhlenarm herunterschoss, den Hauptgang kreuzte und linker Hand donnernd in die Tiefe hinabstürzte.
The Red machte hier halt, setzte sich an den Rand des Wassers, bückte sich und erfrischte sich mit einem Schluck. Das eiskalte Wasser schmeckte nicht schlecht.
Goldwasser, dachte der Mann.
Der Moment der Ruhe rief sogleich wieder seine Phantasie wach. Er gestattete sich eine Pfeife. Mit großer Ruhe und Überlegung und mit erfrischten Kräften wollte er jetzt ans Werk gehen. Er klopfte die Pfeife aus, so dass der Tabak in das Wasser fiel, hängte sie wieder an der Schnur um den Hals und erhob sich. Zunächst tastete er den Rand des Höhlenarmes ab, der rechter Hand aufwärtsführte und aus dem das Wasser herunterschoss. Das Ergebnis seiner Untersuchung war wenig ermutigend. Die Quelle führte im Frühling noch mehr Wasser als zur Sommerzeit und hatte die Ränder ihres Felsenkanals in Jahrhunderten und Jahrtausenden vollständig glatt ausgewaschen. Keine Hand, kein Fuß konnte daran Halt finden.
Der Mann ließ zunächst ab von jedem Versuch, an dieser Stelle aufwärts zu klettern. Er überschritt im Hauptgang der Höhle den Bach, der hier nur seicht floss, und tastete dann vom anderen Ufer aus wieder an der Felswand hoch, die zu dem aufsteigenden Höhlenarm führte. Auch auf dieser Seite war der Fels glatt gescheuert, in Mannshöhe ohne jede Einbuchtung, ohne jeden Halt.
»Donner, Fluch, Dreck! Misthöhle!« Der Mann schrie nicht, er zischte nur und schlug mit der Faust gegen den glatten Fels. Im Vergleich zu seinem Temperament und seinen sonstigen Jähzornausbrüchen war diese Zornesäußerung nur gering und durchaus mild. Er bemerkte sie selbst kaum, es war eine Art Reflexbewegung gewesen.
Er setzte sich wieder hin und dachte nach.
War dies die richtige Stelle? Der zahnlose Ben hatte da hinaufklettern wollen, das stand fest. Warum, das hatte der schwarzhaarige Esel trotz seiner Angst vor Red Jim allerdings nie recht gestanden. Was er Jim gesagt hatte, waren nur Ausflüchte gewesen. Aber die Tatsache, dass der zahnlose Esel eine so schwierige und scheinbar aussichtslose Kletterei versucht hatte, deutete darauf hin, dass er irgendwelche sicheren oder wenigstens einleuchtenden Nachrichten über Goldvorkommen oben in den Seitenarmen der Höhle, bei der Quelle oder über der Quelle besitzen musste. The Red hielt diesen Anhaltspunkt in Gedanken fest und verglich damit die Worte, die er von einem halb betrunkenen Indianer gehört hatte. Wenn diese Worte überhaupt einen Sinn hatten und sich zusammenfügten, so passten sie eben auf diese Stelle in der Höhle. Vielleicht allerdings legte The Red die Worte und Satzfetzen, die er dem angetrunkenen Häuptling entlockt hatte, nur darum als Beschreibung dieser Höhlenstelle aus, weil er durch den zahnlosen Ben schon etwas davon erfahren hatte. Vielleicht gab es viele andere Stellen in dem verfluchten höhlenreichen Berg, die dieser ähnlich sahen, und The Red war seinem Glück nicht nah, sondern fern und wurde wie ein Tanzbär an der Nasenkette von falschen Kombinationen im Kreise geführt.
Alles in allem genommen, das Erste und Notwendige für ihn war, diesen schwierig zugänglichen Höhlenarm zu untersuchen, aus dem das Wasser herunterschoss.
Er stand wieder auf, zog den Tomahawk und suchte, seine Reichweite mit diesem Werkzeug erweiternd, noch einmal die glattgewaschenen Wände von beiden Seiten des Wassers her ab. Aber er fand nicht die geringste Einbuchtung, auch keinen Felsvorsprung als Anhalt.
So ging es also nicht.
Ging es überhaupt? Konnte ein Mensch da hinaufgelangen?
Er hatte keine Lust, bei einem tollkühnen Versuch von dem Wasser mit hinabgerissen zu werden, wie es Ben im Frühjahr geschehen war.
Noch einmal überlegte The Red alle Worte, die er von dem angetrunkenen Indianerhäuptling gehört hatte. Er wusste jedes einzelne auswendig, jedes halbe Wort, jede Silbe hatte er gehört und behalten. Aber der Indianer hatte in der Dakotasprache gesprochen, und der Wortschatz, den The Red in dieser Sprache beherrschte, war nicht groß und bezog sich nur auf